Wer sich unter anderem der Schirmherrschaft von Paul Celan und Ezra Pound versichert, hat es vermutlich nicht auf das Gedicht als kommunikative Textstruktur abgesehen. Einen Zugang zu den Gedichten Léon Rinaldettis zu finden, fällt jedenfalls nicht leicht. Sein neuer Gedichtband, Unter Erdrandsiedlern (erschienen bei Éditions Phi), der Texte von 1988 bis 2011 enthält, lässt einen konstanten Willen zur Verknappung erkennen, zur Reduktion des Gedichts auf einen nicht weiter beschneidbaren Kerntext. Aus Erinnerungen werden so „Innerungen“ (S. 9-16), aufleuch[-]tende Momentaufnahmen des Gedächtnisses an eine Wirklichkeit, die vergangen und daher verschlossen ist: „Eine annähernde Wirklichkeit | gibt es nicht mehr | an der Adresse.1“ (S. 9).
Von den immerhin in sich konsistenten Bildern dieser frühen Gedichte führt ein Weg der radikalen Verkürzung hin zu neueren Texten, deren Anbindung an einen biografischen Kontext (der selbstverständlich nie derjenige des Autors sein muss) genauso schwerfällt wie die Identifizierung dessen, was diese Texte jeweils in sich zusammenhält. Bildlich, aber uneindeutig hangelt sich der Autor an fremdsprachlichen und fremdartigen Wörtern entlang (zum Beispiel „Babyfaces / Retortenprodukte / | Der Gipfel der Gefühle | mit Chick und Schnickschnack“2, S. 113), benutzt Versatzstücke zu sprachlichen Collagen, stellt hin und wieder klangliche Korrespondenzen her, die jedoch kaum inhaltliche Verbindungen erlauben (z. B. „Das Irrlicht sirrt im Glas“, S. 112).
So wie die unmittelbare Schlüssigkeit der Bildzusammenhänge abnimmt, verlieren aktive Verbformen immer mehr an Bedeutung. Rinaldetti setzt auf nomenlastige Formulierungen, zwischen denen die Bindeglieder oft fehlen oder durch Schrägstriche ersetzt werden. Die Funktion dieser Schrägstriche bleibt aber insgesamt eher offen: Mal ersetzen sie Satzzeichen oder Konjunktio[-]nen, mal stehen sie am Vers- oder Strophenende. Überhaupt finden sich auffallend viele Schrägstriche und Zeilenumbrüche in diesen Gedichten, die Wörter oder Wortfolgen auseinander reißen, ohne dass immer klar wäre, wozu genau das im Einzelnen dient. Welcher Unterschied besteht zum Beispiel zwischen „Sonnenbrillen“ und „Sonnen- | Brillen“ (vgl. S. 74)? Welchen Gewinn hat das Gedicht von einem „[&]“ statt wenigstens einer verbalen Abkürzung? Sind das Störfaktoren, die den Lesefluss hemmen und den Leser so vor einer verinnerlichenden Vereinnahmung des Textes abhalten sollen? Oder markieren diese Zeichen nur eine Kompensation, einen optischen Ausgleich für das Fehlen von Metrum und Versmaß?
Ungefähr soviel fällt in den eigentlichen Zuständigkeitsbereich der Literaturkritik. Wofür sie nicht zuständig sein sollte, ist, den Autor zu fragen, was ein Küken („Chick“) mit Schnickschnack zu tun hat, warum er „Éloquance“ schreibt, statt „Éloquence“ (S. 75), warum „night-mare“ statt „nightmare“, „in War“ statt „at War“ oder „the shoed“ statt „the shod“ (S. 50f.). Es mag ja sein, dass der Autor einen Grund hatte, „barfuss“ zu schreiben (S. 100) und nicht „barfuß“, und dass bei „Süßes Schnickschnack“ (S. 86) ein Schrägstrich verloren gegangen ist, aber hätte ein Lektor hier dem Autor nicht wenigstens davon abraten sollen, Fehler als Mittel des Stilbruchs zu verwenden?
Die Wahrheit ist natürlich, dass es keinen Lektor gab, jedenfalls keinen, der sich ernsthaft mit dem Manuskript auseinandergesetzt hätte. Wer das nicht glaubt, kann sich den Werbetext des Verlags anschauen3, in dem über die Gedichte geschrieben steht: „Derweil einige übertitelt sind, stehen andere Verse ohne Thema in der Seite und sprechen doch für sich.“ Wem das an Oberflächlichkeit und Lieblosigkeit noch nicht genügt, darf sich anschließend mit dem dümmlichen Spruch belehren lassen, dass „der Poet“ es verstehe, „seinen Zeilen stets einen tieferen Sinn zu verleihen“. Es wundert daher kaum, dass der Verlag Rinaldetti für einen der „wenigen zeitgenössischen Luxemburger Poeten in deutscher Sprache“ hält. Ob das eher eine dreiste Lüge, ein schlechter Scherz oder pure Ignoranz sein soll, wagt man gar nicht zu entscheiden.
Einen so achtlosen Umgang mit seinen Gedichten hat der Poet nicht verdient. Vielleicht sollte er sich überlegen, ob er das sinkende Schiff nicht bald verlassen will.