Kleintierklinik heißt das neue Buch von Guy Rewenig. Man denkt spontan an Wolliges und Drolliges. Der Titel würde Hoffnungen auf den Plan rufen, dass es auf jeden Fall noch etwas zu verarzten gäbe, dass man da ein wenig desinfizieren und verbinden könnte, ein Pflaster drüber, ein paar rettende Worte wie im zweiten Merseburger Zauberspruch, und schon wäre die Wunde so gut wie verheilt. Doch das Titelbild des Buches macht deutlich, dass in dieser „Klinik“ vor allem die ganz hoffnungslosen Fälle behandelt werden: Es zeigt ein geköpftes Lamm.
Dabei beginnt der Band noch ganz harmlos mit einem putzigen Dialog zwischen einer Mutter und ihrem Sohn (er heißt Maurice, wie der Leser bald erfährt), der sich lieber ausgiebig nach Zingelzangeln und Bobbobokogebirgsbewohnern erkun[-]digt als zu schlafen. Die Mutter gibt geduldig Auskunft. Doch das traute Beisammensein erweist sich bald als große Ausnahme: „Der Junge zappelt durch Tag und Nacht und hat immer Angst“ (S. 11). Wovor nicht alles! Vor seinen Augen wird aus einem Käfer auf dem Kiesweg im Nu „eine dröhnende Kriegsmaschine, fremd und schwarz, ein Ungetüm mit Greifzangen und Giftstachel“ (ebd.), aus einem Frosch ein „fliegendes Ungeheuer“, das den „Parkozean“, nämlich den Gartenteich, in eine einzige Katastrophenlandschaft verwandelt (S. 27), und aus der Rolltreppe eine „eiserne Raupe“, die ihm an den Kragen will (S. 39). Völlig unverhofft kann sich ein achtlos fallen gelassener Bleistift als Mordwerkzeug entpuppen; Maurice sieht ihn einschlagen „wie ein[en] Torpedo, er/hört den ohrenbetäubenden Lärm, er spürt die Erdbebenwelle und stirbt fast vor Angst“ (S. 47).
Der überängstliche Junge erlebt sein Dasein als einen Zustand nahezu unausgesetzter und ständig wachsender Bedrohung. Aus der Mutterperspektive, die Maurices Endzeitstimmungen versprachlicht, werden die Neurosen des Kindes nicht relativiert. Im Gegenteil: Wenn der Sohn anfängt zu lächeln, kann sich die Mutter „nur wundern“: „Was macht ihn heiter, wo doch/nirgends auch nur der kleinste Grund zur Freude wäre?“ (S. 96).
Damit hat sie Recht, scheint der Autor sagen zu wollen, denn die Welt ist schrecklich und Idyllen werden oft nur mit fremdem Leid erkauft. Auf gewohnt sarkastische und hyperbolische Manier stellt er in Texten wie Urlaub oder Kreuzfahrt dem sorglosen westeuropäischen Pauschaltourismus Krieg und Verzweiflung entgegen: In dem Meer, in dem Touristen fröhlich planschen, ertrinken afrikanische Auswanderer. Die krasse Distanz zu fremdem Leid, das den Anhängern der Konsumgesellschaft einen herzlosen und leichtfertigen Lebenswandel ermöglicht, ist bei Maurice in ihr Gegenteil verkehrt: Er kennt überhaupt keine Distanz zur Welt, alles geht ihn an. So scheint es fast, als spiegelte sich in seinen Ängsten das Dauertrauma, zu dem die Massenmedien tagaus, tagein anstacheln, als ein permanenter Katastrophenalarm.
Dass sich Rewenig in seiner Kleintierklinik über weite Strecken einmal mehr einer weiblichen Persona bedient, ist vermutlich nicht als weitere Variante des Vexierspiels zu verstehen, das er mit seiner Autoridentität betreibt. Die Figurenkonstellation von Mutter und Sohn in den Mau[-]rice-Gedichten greift offenbar im Wesentlichen die Beziehung von Leny Kramp, der Protagonistin des ersten Naskandy-Romans Sibiresch Eisebunn, zu ihrem Sohn Luca wieder auf: Ständig schwankt die Mutter zwischen Fürsorge und Hilflosigkeit, ständig versucht sie, zu helfen und zu beruhigen, gegen einen Schrecken anzukämpfen, gegen den sie eigentlich nicht ankommen kann. Ein wenig gleicht ihr unablässiges Bemühen damit dem Impetus der Texte Rewenigs, die das, was es in der Welt an Furchtbarem und Verkehrtem gibt, zwar unterhaltsam ironisieren, dieses Furchtbare dadurch jedoch nicht aus der Welt schaffen können.
Die in Kleintierklinik abgedruckten Texte, die der Autor als „Gedichte“ bezeichnet, sind trotz einiger Alliterationen, Anaphern und Tropen meistenteils eher Kurzprosa als Lyrik im engeren Sinn (womöglich ein Anschlag Rewenigs auf die Papierindustrie, vgl. S. 94). Dass sich bei so vielen Texten einige weniger überzeugende eingeschlichen haben, wie zum Beispiel die Pointenjagd in Regeln der Haushaltssanierung (vgl. „Bananalitäten“), lässt sich bei dieser Art von Büchern kaum vermeiden. Dass er aber mehr auf dem Kasten hat als ein paar gewitzte Neologismen, bezeugt Rewenig in der Mehrzahl dieser Texte. Unabhängig vom größeren Zusammenhang der Maurice-Gedichte, die den Band zusammenhalten, indem sie Szenen einer eigenen kleinen Geschichte wiedergeben, zu der der Leser alle paar Seiten gern zurückkehrt, finden sich besonders unter den „gedichteten“ Gedichten ein paar schöne Einfälle. Das Sentimentalquartett etwa, oder der Hungerwinter sind durch ihre Lakonie und ihren eher stillen Witz besonders überzeugend. Vielleicht zeigen sie eine Richtung an, nach der sich der Autor in Zukunft noch stärker orientieren kann.