Auf dieses Buch habe ich gewartet: Textleben. Über Literatur, woraus sie gemacht ist, was ihr vorausgeht und was aus ihr folgt von Michael Lentz, geboren 1964 in Düren.
Von Lentz hörte ich zum ersten Mal, als ich 2001 zufällig in die Lesungen des Klagenfurter Literaturwettbewerbs hineinzappte. Genau richtig. Lentz hatte gerade damit begonnen, seine autobiografische Erzählung Muttersterben vorzutragen. Wow, wie der liest. Ich hatte noch nicht gesehen oder gehört, dass sich jemand beim Lesen derart in den Text hineinkniet, sich (seine Stimme, seine Körperhaltung) so ganz in den Dienst des Textes stellt, statt ihn wie etwas Fremdes einfach abzulesen oder als Politur für sein Ego zu benutzen. Lentz hatte einige Jahre zuvor eine Doktorarbeit über Lautpoesie vorgelegt, die bis heute ihren Ruf als Standardwerk behauptet1. Der las nicht zufällig so und auch nicht zufällig gut.
Lentz gewann also den Bachmann-Preis und seine Bücher erschienen im Fischer Verlag. Wieder dieser Tonfall; das war nicht nur im Vortrag, sondern im Text selbst. Irgendwie keine Selbstverständlichkeit, wenn man es mit dem vergleicht, was sonstwo noch alles geschrieben wird. Nachdem Lentz’ erster Roman Liebeserklärung erschienen war2, hörte ich ihn in einer Veranstaltung an der Universität Tübingen sagen, das Allerwichtigste, was ein Autor tun müsse, sei, eine eigene Stimme zu finden. So lapidar sagte der das. Es war auch gleich klar, wie man das macht: Erst einmal ganz viel und ganz genau lesen und sich anschauen, wie andere das hinbekommen haben.
Textleben ist eine Sammlung von poetologischen, wissenschaftlichen und kritischen Texten aus rund zehn Jahren. Lentz schreibt über sich selbst (das heißt als Schreibender), über bekannte Größen, an denen man sich bis heute abarbeiten kann/soll (Thomas Mann, Robert Walser, Rilke, Benn, [-]Beckett) und über zum Teil noch zu entdeckende Größen, die nicht nur einem breiteren Publikum bis dato völlig unbekannt sein dürften (Carl[-]friedrich Claus, Bodo Hell, Valeri Scherstjanoi undsoweiter). Lesen und Schreiben gehören für Lentz unzertrennbar zusammen: „Schreiben und Lesen sind eine Tateinheit.“ (S. 53). Wo er sich dem Schreiben anderer zuwendet, macht er sich das Leben aber nicht mit gefühligen Annäherungen oder biographischen Abrissen leicht. Ich kenne keinen anderen zeitgenössischen Autor, der neben seinem literarischen Schaffen über eine ähnliche Bandbreite und methodische Gewissenhaftigkeit in der Auseinandersetzung mit anderen Autoren verfügt. Gerahmt wird die Sammlung durch ein Vorwort und einen hilfreichen Essay von Hubert Winkels, so dass der Leser mit der Aufgabe einer Zuordnung des Gelesenen nicht ganz allein gelassen wird. Was das Buch im Wesentlichen leistet, wird aber ganz schnell klar: Es enthält letztlich die Beschreibung, wie Lentz zu seinem unverkennbaren Tonfall gefunden hat.
Dass in dieser Hinsicht dann doch vor allem die Selbstreflexion interessiert, ist einigermaßen naheliegend. In Textleben findet man da einiges, was man in poetologischen Texten gar nicht mehr zu lesen gewohnt ist. Erstens: Lentz erteilt Ratschläge und Anweisungen. Sowas traut sich fast keiner. Er pocht unter anderem auf Klarheit, gesunde Lebensführung und vor allem auf die Unabdingbarkeit des Lesens, Lesens, Lesens. Da spricht sicher der Umgang mit angehenden Autoren am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig aus ihm, wo er seit einigen Jahren lehrt. Wie man mit sich selbst als Schreibendem umgehen soll, zeigt Lentz aber vor allem an sich selbst: „Ich erkläre mir versuchsweise den Krieg. Dann schaue ich, was von mir übriggeblieben ist als Autor.“ (S. 102).
Also zweitens: Lentz geht seinem Schreiben auf den Grund und kritisiert dabei seine eigenen Bücher. Das ist nach Umberto Ecos Mahnung, der Autor dürfe das eigene Werk nicht interpretieren, um dessen Eigenleben nicht zu gefährden3, ziemlich selten geworden. Wenn überhaupt, neigen Autoren allgemein eher dazu, ihr Werk zu verteidigen und Kritiker für ungünstige oder ungenügende Besprechungen abzuwatschen. Nicht so Lentz. Jedes einzelne seiner bis dahin geschriebenen Bücher nimmt er sich in einer Poetikdozentur von 2008 vor, um es minutiös zu zerpflücken. Fazit: „Gemessen an dem, was man vorhatte, ist jedes Buch das Manifest eines Scheiterns.“ (S. 123). Diese Ehrlichkeit und dieses verbissene Streben danach, das zumindest bessere, wenn nicht das wirklich gute Buch noch zu schreiben, tut einem beim Lesen fast weh.
In seinem Text über Uwe Dick schreibt Lentz: „Dichtung ist, wenn immer noch ein Rest bleibt, der sich dem Verstehen verweigert. Und dieser Rest lässt den Leser zurückkehren, ihn die Dichtung zum wiederholten Male durchqueren.“ (S. 288). Ich kenne kein Buch von Michael Lentz, auf das diese Aussage nicht zutrifft. Ich bin da ganz parteiisch. Mir ist schlichtweg unverständlich, warum nicht mehr Leute Lentz lesen.
Als Einstieg in sein Werk ist Textleben vielleicht nicht sehr gut geeignet. Man beginne zum Beispiel mit Offene Unruh, einem Buch mit hundert Liebesgedichten, das letztes Jahr bei Fischer erschienen ist4. Ich wage zu sagen: Es ist sehr gut.