Hätte Premier Xavier Bettel (DP) für seine Erklärung zur Lage der Nation am Dienstag noch ein Thema haben wollen – die Personalfrage im Gesundheits-, im Pflege- und Sozialwesen, und was damit alles zusammenhängt, hätte ohne weiteres eines hergegeben. Fast 700 Seiten lang ist die Studie dazu, die vergangene Woche fertiggestellt wurde, und sie lässt die Alarmglocken läuten. Die Situation sei so ernst, dass sie zu einer „cause nationale“ erklärt werden sollte, heißt es in den Schlussfolgerungen.
Denn offenbar geht es nicht allein um drohenden Ärztemangel, wie der Ärzteverband AMMD ihn seit anderthalb Jahren vorhersagt und damit im Kammer-Wahlkampf vor allem der CSV politisches Futter zu liefern versuchte. Solche Feststellungen trifft die Studie von Marie-Lise Lair, der früheren Leiterin der Abteilung Öffentliche Gesundheit am Centre de recherche public de la Santé (heute Luxembourg Institute of Health), auch: Die Hälfte der Mediziner ist 53 oder älter. Von den im Jahr 2017 laut CNS 2 088 „aktiven“ Ärzten könnten in den kommenden 15 Jahren 1 233 bis 1 437 in Rente gehen, bis zu 69 Prozent. Um sie zu ersetzen, seien pro ausscheidendem Arzt 1,2 bis 1,5 neue nötig, da ganz abgesehen von der zunehmenden „Feminisierung“ des Berufs junge Ärzte generell viel weniger bereit seien, „zu leben, um zu arbeiten“, als ihre älteren Kollegen. Für manche Facharztdisziplinen sagt die Studie einen noch größeren Bedarf an Nachwuchs voraus – je nach Disziplin würden bis zu 87 Prozent der heute Aktiven ausscheiden. Da Luxemburg erst ansatzweise beginnt, Mediziner selber auszubilden, bleibe es abhängig vom Ausland und damit „angreifbar“. Denn im Grunde hätten alle europäischen Länder Probleme mit ihrer Mediziner-Demografie und ergriffen Maßnahmen, um ihre Ärzte bei sich zu halten.
Die Studie geht aber noch um einiges weiter. Zum Beispiel stellt sie fest, „zahlreiche Aktionspläne“ des Gesundheitsministeriums zum Wohle der öffentlichen Gesundheit, „so lobenswert sie sind“, würden lediglich „zum Teil“ klären, welche Strukturen zur Umsetzung der Pläne nötig sind; was das an Personal erfordert, wie viel zusätzlich mobilisiert werden muss und wie das bezahlt werden soll. Die sich drohenden Schwierigkeiten seien abzusehen gewesen, aber die Steuerung der Berufs-Ressourcen sei „unzureichend“. Weder im Gesundheitsministerium noch im Gesundheitsamt existiere „ein den professionellen Ressourcen gewidmetes Organ“. Es gebe keine „national geteilte Vorstellung“ über Struktur und Organisation des Systems, aus dem sich Personalbedarfe ableiten lassen könnten, kein Monitoring, nicht genug Indikatoren, keine „Kommunikationsplattform zu Bedarf und Angebot an Ärzten“. Gesundheitsminister Etienne Schneider (LSAP) hatte schon recht, als er am Dienstagvormittag auf seiner der Studie gewidmeten Pressekonferenz erklärte, „sie beschönigt nichts“.
Nicht nur den absehbare Ärztemangel wurde in den Blick genommen, sondern auch der an Paramedizinern, von Pflegern über medizinisch-technische Assistenten bis hin zu Kinés. Über alle diese Berufe könnten 40 Prozent in den nächsten 15 Jahren in Rente gehen. Zurzeit aber kommen 62 Prozent der Paramediziner von jenseits der Grenzen. Noch sei Luxemburgs Gesundheitswesen attraktiv für sie, wegen des bis zu drei Mal höheren Gehaltsniveaus, der 38 Stundenwoche und der im Vergleich zum Ausland hohen Personaldotation der Kliniken. Doch so, wie in den Nachbarländern versucht würde, Ärzte zu halten, gelte das auch für Paramediziner. Dabei sind in Luxemburg nur knapp ein Drittel der Krankenpfleger in Spitälern tätig, die meisten im Pflege- und Sozialbereich. Dort aber gilt der ungünstigere Kollektivvertrag, so dass die Krankenhäuser unweigerlich zu Konkurrenten für Altenheime, Pflegenetzwerke oder Behinderteneinrichtungen um Pflegekräfte werden. Noch schwieriger mache die Lage, dass Luxemburg eines der letzten EU-Länder ist, in dem die Ausbildung zum Pfleger und spezialisierten Pfleger nicht an Universitäten erfolgt und statt zum Bachelor höchstens zum BTS führt. Dabei sei es nicht nur möglich, sondern nötig und sinnvoll, Pflegern mit Bachelor-Abschluss Posten mit höherer Verantwortung zuzugestehen. So gesehen, sei der BTS eine „Sackgasse“, der wiederum Luxemburgs Abhängigkeit vom Ausland nicht senkt: Die Ausbildung am Gesondheetslycée sei nicht attraktiv genug und die Berufsbilder – verglichen mit dem der Ärzte – nicht gut angesehen.
Das sind Befunde, die so weit reichen, dass sie die ganze Regierung betreffen. Es geht um Gesundheits-, Pflege- und Sozialwesen, um die Hochschulbildung und um Geld, das ausgegeben werden müsste. Etienne Schneider wiederholte am Dienstag, was er seit seinem Amtsantritt in der Villa Louvigny einige Male geäußert hat: „In einem reichen Land wie Luxemburg kann das nicht sein ...“
In Frage steht aber vor allem die sehr komplexe und fragile Balance um Gesundheit und Krankenkasse. Sämtliche Gesundheitsdienstleister, von den Ärzten über die Labors bis hin zu den Krankenhäusern, sind vertraglich an die CNS gebunden, in die alle Berufstätigen, ihre Arbeitgeber und der Staat einzahlen. Die Pflicht-Vertragsbindung garantiert andererseits Tarifautonomie zwischen Dienstleistern und Kasse, die Politik soll sich weitgehend heraushalten. Patienten wird die freie Wahl des Dienstleisters zugestanden, Ärzten Verschreibungs- und Therapiefreiheit. Sie dürfen auch ein paar Zuschläge berechnen, ohne dass man das gleich Privatmedizin nennen müsste. Obwohl die CNS darauf achtet, nur die Kosten für das „Nützliche und Notwendige“ zu tragen, ist der Deckungsumfang der öffentlichen Krankenversicherung der höchste der OECD-Staaten. Was nicht zuletzt am hohen Anteil junger Einwanderer und Grenzpendler an den Versicherten liegt, die mehr als ausgleichen, was die CNS für ältere Versicherte ausgibt. Weil der Arbeitsplatz-Boom anhält, erlaubt das Krankenkassen-Beitragssätze, die so niedrig sind, dass das ein Faktor im „Standortwettbewerb“ ist.
Vor diesem Hintergrund soll nun ein „Gesundheitstisch“ diskutieren, aber viele Probleme bestehen schon länger. Die Tarifautonomie vor allem zwischen Ärzten und CNS funktioniert kaum noch, denn der Ärzteverband erhebt Forderungen, wie nach mehr Abrechnungsfreiheiten, über die politisch entschieden werden müsste. Freie Arztwahl für die Patienten ist in Wirklichkeit nicht mehr gegeben, weil – und das hebt auch die Studie hervor – viele Spezialisten entweder so überlastet sind, dass sie keine neuen Patienten annehmen, oder eine Überweisung durch den Hausarzt verlangen. Weshalb der Politik nun nahegelegt wird, über den Hausarzt als „Gatekeeper“ nachzudenken. Mars Di Bartolomeo hatte das 2010 in der Gesundheitsreform versucht und mit dem „Médécin-référent für alle“ einen Gatekeeper light einführen wollen. Doch die Idee wurde nicht nur von der AMMD, sondern auch vom OGBL bekämpft, der darin eine Zukunft kommen sah, in der Zusatzversicherungen freie Arztwahl anbieten würden. Wollte der Gesundheitstisch auf die Idee zurückkommen, wäre schon das politisch schwierig.
Die Studie stellt auch die „liberale Klinikmedizin“, das in Luxemburg abgesehen vom CHL vorherrschende Belegarztsystem, in Frage: Es sei durchaus eine Hürde bei der Rekrutierung neuer Ärzte. Vor allem junge Mediziner am Anfang ihrer Laufbahn könne die Vorstellung, als Freiberufler allein zu agieren und nicht in Festanstellung, abschrecken. Ganz konkret sei das Belegarztprinzip eine Gefahr für den Fortbestand des Herzchirurgiezentrums INCCI: Dort sei mit besonders vielen Abgängen von Chirurgen in die Rente zu rechnen. Im Ausland jedoch gebe es Herzchirurgie nach dem Belegarztprinzip nicht, sondern nur in großen Behandlungszentren beziehungsweise an Universitätskliniken.
Was unweigerlich an die derzeit schwelenden Konflikte um die angeblich zu stark „krankenhauszentrierte“ Versorgung denken lässt und an das Werben des Ärzteverbands für „dezentrale Strukturen“. Vor dem Hintergrund des „IRM-Urteils“ des Verfassungsgerichts wächst landesweit bei Ärzten das Begehren, in Gemeinschaftspraxen zu arbeiten. Manche Ärzte würden dort auch operieren wollen. Doch auch der AMMD beginnt zu dämmern, dass eine Liberalisierung des außerklinischen Sektors die Konkurrenz aus dem Ausland nach Luxemburg locken würde, vor allem kapitalkräftige Anbieter aus Deutschland. Vermutlich sprach sich deshalb AMMD-Präsident Alain Schmit in einem langen Meinungsartikel im Luxemburger Wort vom 28. September dafür aus, auf jeden Fall die Pflichtbindung der Ärzte an die CNS beizubehalten und sie lediglich zu lockern.
Gleichzeitig sieht es so aus, als könne die Konkurrenz zwischen den Spitälern zunehmen. Das CHL scheint die in der Öffentlichkeit verbreitete Botschaft von der Unterversorgung mancher Regionen mit Spezialisten – die die Studie vor allem für die Kantone Clerf, Vianden und Redingen konstatiert – als Chance anzusehen und hat in Mersch und Grevenmacher je ein „Praxiszentrum“ eröffnet, wo CHL-Ärzte verschiedener Disziplinen Konsultationen anbieten. Ein solches Zentrum auch im Norden einzurichten, wird am CHL nicht ausgeschlossen. Allen bisherigen Erfahrung nach dürften die Schuman-Krankenhäuser, der ewige Konkurrent des CHL, nachziehen. Schon Anfang des Jahres haben sie eine „Antenne“ in Grevenmacher angekündigt, die dem Vernehmen nach mehr anbieten würde als lediglich Konsultationen.
Geht all das in eine gute Richtung? Die Versorgung in Luxemburg auf Spitäler zu konzentrieren, war bisher politisch gewollt. Es sollte die Kosten beherrschbar halten und Synergien ermöglichen. Das neue Spitalgesetz soll seit 2018 für die Bündelung von Kompetenzen sorgen und durch Abkehr vom „Jeder macht alles“ die Konkurrenz eindämmen helfen. Nun fragt sich, inwieweit das weiterhin so gelten soll. Die dem Gesundheitsminister vorgelegte Studie schreibt in ihrem Empfehlungen einerseits, es dürfe keine „Verschwendungen“ geben, andererseits empfiehlt sie „multidisziplinäre Praxiszentren“. – Das werde man „organisieren müssen“, erläuterte Marie-Lise Lair am Dienstag, und der Minister meinte, „ich bevorzuge Antennen von Krankenhäusern“. Festlegen wollte Etienne Schneider sich aber noch nicht.
Dabei wäre es höchste Zeit, dass zumindest der Gesundheits- und der Sozialminister nicht nur mit den „Akteuren“ Gespräche führen, sondern klar machen, für welches „System“ sie stehen und diese Position auch offensiv verteidigen. Andernfalls droht nicht nur Chaos, sondern der LSAP ein Fegefeuer. Dass Etienne Schneider angekündigt hat, noch vor Ende der Legislaturperiode aus der Regierung ausscheiden zu wollen, weil „zehn Jahre als Minister reichen sollten“ (d’Land, 4.10.2019) ist angesichts der „cause nationale“ kein gutes Zeichen.