Die beiden Karate-Kämpferinnen Jenny Warling und Tuba Yakan standen sich schon am 11. Februar 2018 im spanischen Guadalajara gegenüber, im Finale des hochklassigen K1 Weltcups. Acht Sekunden vor Kampfende punktete die Türkin zum entscheidenden 1:0, ihrem sechsten Sieg im siebten direkten Duell gegen die Luxemburgerin. Dass die beiden sich ein gutes Jahr später im Endkampf zur Karate-Europameisterschaft erneut gegenüberstanden, musste deshalb eigentlich niemanden überraschen. Außer man wusste von der schweren Knieverletzung, die Jenny Warling sich im August 2018 zugezogen hatte. Als sie ihre Angstgegnerin Yakan am 30. März schließlich niedergerungen hatte, sprudelten die Glückwunschsnachrichten nur so über. Bereits eine knappe Stunde später zeigte Sportminister Dan Kersch (LSAP) in einer erfreuten Facebook-Botschaft, dass er seinen Brecht kennt.
Der lässt den berühmten lesenden Arbeiters rhetorisch fragen: „Der junge Alexander eroberte Indien. Er allein? Cäsar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?“. Dan Kersch lobte vorsichtshalber doppelt: „Waat d’Jenny Warling geleescht huet ass einfach GROUSS. Genial! E grousse Merci geet awer och un déi Verantwortlech vum LIHPS an déi medizinesch Betreier ronderëm den Dr Seil déi dem Jenny no senger schwéierer Verletzung erëm op eng professionnel Art a Weis op d’Been gehollef hun. 2 x Weltklass, Lëtzebuerg kann houfreg sin.“
Unter seinem Amtsvorgänger Romain Schneider (LSAP) hatte das Comité olympique et sportif luxembourgeois (Cosl) 2014 eine große Bestandsaufnahme der nationalen Sportbewegung vorgenommen. Das Concept intégré pour le Sport au G.-D. de Luxembourg wurde nach den Olympischen Spielen von London im Parlament vorgestellt. Bemängelt wurde darin unter anderem, dass abgesehen von der Sportmedizin in Luxemburg keinerlei Sportwissenschaft existiere und man auf Transfer von Knowhow aus dem Ausland angewiesen sei. Im Hochleistungsbereich wurden gleich mehrere Schwachpunkte ausgemacht. Um die wenigen Elitesportler optimal betreuen zu können, sei die Ausstattung insgesamt personelle, finanziell und auch infrastrukturell mangelhaft.
Dabei zeige sich ein luxemburgisches Problem: Es sei „unmöglich, dass kontinuierlich in Quantität und Qualität genügend Leistungssportler für alle sportlichen Disziplinen vorhanden sind“. In der Praxis bedeute das, dass mit dem Karriereende herausragender Sportler oft auch die mühsam dahinter aufgebaute Struktur und das entsprechende Knowhow verloren gehe. Ohne entsprechende Strukturen würde die luxemburgische Elite aber mehr und mehr den Anschluss an die internationale Konkurrenz verlieren.
Kurz vor den nächsten olympischen Spielen 2018 in Rio zeigte sich das Cosl dann zufrieden mit einem geplanten und an ausländische Modelle angelehntem „Olympiastützpunkt“. Diese zeichne sich diese durch eine unabhängige Führung und ein eigenes Budget aus, immer mit dem Ziel, bestehende Ressourcen und Knowhow für eine optimale Förderung der Elitesportler zu nutzen.
Es dauerte jedoch noch bis zum 19. Januar 2018, ehe Romain Schneider in der Coque das „Luxembourg Institute for High Performance in Sports“ (LIHPS) vorstellte. Allerdings war erst zu diesem Zeitpunkt der frühere Eliteschwimmer Laurent Carnol in einer der sportlichen und beruflichen Karriereberatung ähnlichen Funktion vom Sportministerium zum LIHPS gewechselt. LIHPS-Direktor ist 1. Juni 2018 mit Alwin de Prins ein weiterer früherer Schwimmer. Mit dem Bronzemedaillengewinner im Gewichtheben von 1988 in Seoul, Martin Zawieja, stieß ein deutscher Trainingswissenschaftler zum Team, und in Teilzeit wechselte auch Eric Besenius vom sportwissenschaftlichen Labor des Luxembourg Institute of Health zum LIHPS. Die Anfangsinvestition von 394 500 Euro für 2018 nimmt über die Jahre leicht zu, und eine weitere, niedrige sechsstellige Summe ist für die Funktionskosten des vom LIHPS verwalteten und exklusiv für Elitesportler geschaffenen „High Performance and Recovery Center“ in der Coque vorgesehen.
Überwacht von einem Verwaltungsrat mit je zwei Mitgliedern von Cosl, Sportministerium sowie Sportmedizinern aus der Eicher Klinik des CHL muss sich das LIHPS jedoch erst noch selber finden und die bestehenden Lücken im Bereich Hochleistungssport möglichst effizient füllen. „Unsere Hauptrolle ist es, Koordinationsorgan für die Elitesportler zu sein“, definiert der dreifache Olympionike Laurent Carnol die Mission seines Instituts, das im Wortsinn, das heißt als Gebäude, noch nicht einmal besteht. Die Büros der Mitarbeiter befinden sich derzeit wie jene des Cosl oder auch der Sportverbände in der Strassener Maison des Sports. Was im Sinne kurzer Wege sinnvoll ist, denn neben der unmittelbaren Betreuung von mittlerweile rund 30 Elitesportlern soll das LIHPS „einerseits eine Struktur und Expertise aufbauen, damit die Sportler international kompetitiv sein können“. Andererseits soll es „mittelfristig Knohow an die Partner im Sport, wie Verbände, das Sportslycée und die Éole nationale d’éducation physique et des sports weitergeben“, wie Laurent Carnol ausführt. Ab September 2020 ergänzt das nächste Puzzlestück ein bereits jetzt komplexes Gebilde: Dann wird dem LIHPS mit dem 9,1 Millionen Euro schweren Projekt einer Diagnostikakademie und der „Sportfabrik“ im Oberkorner Parc des Sports ein weiteres Instrument für erfolgreichen Spitzensport zur Verfügung stehen.
Bereits in seiner Gründungsphase kann das LIHPS einen ersten, überraschenden Erfolg vorweisen und seine Existenzberechtigung belegen. Nicht nur der Sportminister erwähnte das Institut nach dem EM-Finalsieg von Jenny Warling. Auch die Sportlerin sagt: „Es war ein Glück, dass Nina ab Anfang September im LIHPS angestellt wurde. Bis Ende des Jahres war ich jeden Tag bei ihr. Das war wichtig, denn ich bin ein ungeduldiger Mensch und hätte sicher selber manches ausprobiert, wenn es nicht weitergegangen wäre.“
Mit Nina ist Nina Goedert gemeint, Physiotherapeutin am LHIPS. Dass Warling sie monatelang täglich aufsuchte, lag daran, dass die ehrgeizige Sportlerin sich zu Beginn der olympischen Qualifikationsphase im Sommer vergangenen Jahres bei einem internationalen Trainingslager in Hong Kong das Kreuzband gerissen hatte. Laurent Carnol schränkt zwar ein, dass die Sportorthopäden um Romain Seil an der Eicher Klinik die Karateka ohne das LIHPS ebenso gut operiert und medizinisch betreut hätten. Mit dem Institut hatte die Sportlerin aber einen direkten Ansprechpartner, der sich bedarfsgerecht um all ihre Belange kümmerte und die medizinische Betreung samt zahlreicher biometrischer Tests mit der Physiotherapeutin, sowie später den Trainern im Karate koordinierte. Ein glücklicher Zufall war dabei, dass wenige Tage nach der Operation die erfahrene Physiotherapeutin Nina Goedert beim LIHPS anfing. Eben um kurzfristig und bedarfsgerecht den Leistungssportlern genügend Betreuung anbieten zu können.
Zeit wurde mit der Verletzung für Jenny Warling tatsächlich zum Problem. Die wichtige Weltmeisterschaft hatte sie bereits verpasst, mit der Europameister stand sieben Monate nach der Operation und kurz nach ihrem 25. Geburtstag Ende März bereits der nächste wichtige Meilenstein auf dem steinigen Weg zu den Olympischen Spielen in Tokyi an. Sie erklärt: „Ich musste an der EM teilnehmen. Ich brauchte die Punkte, und es war meine letzte Chance, mich für die European Games vom 14. bis 30. Juni in Minsk zu qualifizieren.“ Über diese europäischen Spiele, die olympische Rangliste oder über ein abschließenden Qualifikationsturnier im Mai nächsten Jahres in Paris führen die drei möglichen Qualifikationswege zu den Olympischen Spielen 2020 in Tokio. Dem wahrscheinlich einzigen Mal überdies, dass Karate während Jenny Warlings sportlicher Laufbahn olympisch sein wird.
Die EM bedeutete aber ein gewisses Risiko, denn ein neues Kreuzband ist erst nach einem bis anderthalb Jahren hundertprozentig einsatzbereit. Eine Ernährungsberaterin des LIHPS hatte neben Tipps für das nötige Kampfgewicht Jenny Warlings Ernährung vor allem auf eine bestmögliche Heilung hin optimiert. Bereits nach gut vier Monaten durfte die Karateka im Januar dann wieder aufs Tatami, und das tägliche verbissene Regenerationstraining wurde für drei bis vier Karatetrainings auf drei zweistündige Einheiten pro Woche reduziert. Die sportlich schwierige Zeit, in der die junge Sprotlerin zudem ihr Masterstudium in Analytischer Chemie und Qualitätssicherung abschloss und im Dezember bei DuPont de Nemours als Laborantin anfing, hatte aber auch ihre gute Seiten: „Ich habe viel gelernt, mich selber auch viel besser kennen gelernt und viel bewusster trainiert. Manchmal habe ich sogar ein Training vorzeitig beendet, wenn ich mich und vor allem das Bein zu müde fühlte.“
Erstaunlicher als ein Knie, das bereits sieben Monate nach einer Kreuzband-OP ein hochklassiges Karateturnier aushält, ist wohl, wie ihr Kopf mit der belastenden Situation umging. Angst vor einer erneuten Verletzung kannte sie die ganze Zeit kaum: „Ich vertraute meinem Kiné und den Ärzten. Bei zu großen Risiken hätten sie mich nicht trainiern und auch nicht zur EM antreten lassen.“ Im Wettkampf stand sie eigentlich vor einer Last-Chance-Situation, aber drehte den Spieß auch mit Hilfe ihrer langjährigen deutschen Mentaltrainerin um: „Ich hatte bei der EM weniger Druck. Ich freute mich, überhaupt kämpfen zu dürfen, hatte diese Duelle vermisst und nichts zu verlieren.“
Nach zwei gewonnenen Kämpfen bekam das im Viertelfinale die polnische Weltmeisterin Dorota Banaszczyk in einem diskussionslosen 3:0 zu spüren. Selbst als Jenny Warling zwei Tage später im zweiten Finale bei einer EM nach der Silbermedaille 2014 ihrer Angstgegnerin Tuba Yakan mit der einschüchternden Bilanz von 1:6 Niederlagen gegenüberstand, blieb die 25-Jährige erstaunlich cool: „Ich hatte letztes Jahr zwar gegen sie verloren, aber nun nichts zu verlieren. Das Finale war für mich die Kirsche auf dem Kuchen. Natürlich war ich auch aufgeregt, aber sie wohl noch mehr.“
Der Karateka aus dem Verein aus Walferdingen gelang jedenfalls gleich der wichtige erste Punkt, der bei Gleichstand über den späteren Sieg entscheidet. Sogar während eines Rückstands von zwei Punkten blieb sie gelassen und konzentriert, glich aus und konterte sieben Sekunden vor Schluss zum alles entscheidenden 5:4-Erfolg. Nun endlich brüllte sie ihre Emotionen über den unverhofften Triumph heraus, sprang Nationaltrainer Michel Lecaplain um den Hals und erinnert sich heute mit der analytischen Distanz der Naturwissenschaftlerin: „Das Gefühl war einfach mega. Alles baute aufeinander auf. Der Titel war wie eine große Belohnung dafür, dass wir alles richtig gemacht und nie aufgegeben hatten.“