Schwarz glänzten die Limousinen in der Sonne. Gleich vier Minister waren am Dienstagnachmittag zur Konferenz über die sexuelle und affektive Gesundheit in Walferdingen erschienen. Die Eröffnungsrede vor voll besetztem Auditorium auf dem Bildungscampus Edupôle hielt in gewohnt schmissiger Weise Gesundheitsminister Etienne Schneider (LSAP). Sein Ministerium koordiniert und verantwortet den Aktionsplan zur sexuellen und affektiven Gesundheit, der an diesem Tag vor ExpertInnen vorgestellt wurde.
Pädagogisch war der Auftritt von Bildungsminister Claude Meisch (DP), der die Rolle der Eltern in der Sexualerziehung und -aufklärung ihrer Kinder unterstrich, sowie die von Schule und Kindergarten. Es gehe darum, diese „altersgerecht“ und im Sinne der Offenheit und der Toleranz zu gestalten. Parteikollegin und Familienministerin Corinne Cahen sprach über sexuelle Minderheiten und das Operationsverbot an minderjährigen Intersexuellen, das die Koalition plant, ein Teilaspekt der sexuellen Gesundheit, von Cahen in einem eigenen Aktionsplan adressiert. Und Taina Bofferding, Ministerin für Chancengleichheit (LSAP) betonte ihrerseits, wie wichtig egalitäre gewaltfreie Beziehungen seien.
Eine Evaluation, die keine ist
Dann war der Ministerreigen vorbei, die Limousinen rauschten noch vor der Pause davon. Der Gesundheitsminister und der neue Chef des Gesundheitsamts sowie die geladenen Experten aus zahlreichen Organisationen blieben. Man habe „eine Evaluation des alten Plans“ vorgenommen, erklärte Redner Bechara Georges Ziadé, der Yolande Wagener an der Spitze der Abteilung Schulmedizin abgelöst hat. Der alte sei „gut gewesen.“ Konkretes zum Plan und seine Umsetzung sagte er nicht. Die Konferenzteilnehmenden hatten den neuen Aktionsplan ausgehändigt bekommen: Die zweite Auflage fällt mit fünf Seiten deutlich schlanker aus als die erste von 2013 bis 2016 (verlängert bis 2018), die neun Seiten umfasste.
Auf Anfrage des Land, besagte Evaluation des Vorgängers einzusehen, korrigierte sich Ziadé wenig später. Es habe keine „echte Evaluation“ gegeben. Vielmehr habe ein deutscher Experte mit Leuten aus der Praxis gesprochen und eine Zwischenbilanz gezogen. Das Land wollte eine schriftliche Synthese dieser Unterredungen, allerdings gab es laut Ministerium kein zitierbares Dokument. Der Experte habe Verbesserungen bei der interministeriellen Gouvernance angeregt, so Ziadé weiter. Zu den Maßnahmen, die der Vorgängertext vorgesehen hatte, zählte ebenfalls, die interministerielle Zusammenarbeit mit einer Koordinationszelle zu stärken. Ein Team von Experten sollte Indikatoren entwickeln, um die Effekte der verschiedenen Aktionen zu analysieren. Jetzt stellt sich heraus: Weder wurden besagte Indikatoren entwickelt, noch scheint es eine Gruppe zu geben, die derzeit daran arbeitet.
Die Themenbereiche 2013 bis 2016/2018 reichten von Bonne Gouvernance über Information und Sensibilisierung, Kompetenzförderung, über Zugang, Diversifizierung, Dauer des Angebots bis hin zur Evaluation – die Gliederung wurde im neuen Plan beibehalten. Was in der verschlankten zweiten Auflage fehlt, sind jedoch konkrete Einzelmaßnahmen zur Umsetzung mit klar benannten Zuständigkeiten. Im alten Plan standen der Zeitraum, waren die verantwortlichen Vereine und Akteure sowie das jeweils zuständige Ministerium benannt. Im neuen fehlen diese Präzisionen, stattdessen steht dort beispielsweise unter der Überschrift Information und Sensibilisierung: Förderung der affektiven und sexuellen Gesundheit in sämtlichen schulischen Einrichtungen sowie in den Betreuungsstrukturen. Aber wer das wie umsetzen soll, zumal wenn es private Schulen und Kindergärten betrifft, steht dort nicht. Unter dem Titel „Stärkung der Kompetenzen“ ist wohl die Fort- und Weiterbildung des Lehrpersonals gelistet, aber die strittige Frage, ob allein das Lehrpersonal Schüler über Sexualität aufklären sollen oder geschultes Personal vom Planning Familial oder anderen Fachdiensten, wie in der Vergangenheit, wird nicht geklärt.
Dabei sind Auftrag und inhaltliche Stoßrichtung dieselben und unverändert: Die Weltgesundheitsorganisation WHO beschreibt sexuelle und affektive Gesundheit als „Zustand des körperlichen, emotionalen, mentalen und sozialen Wohlbefindens in Bezug auf die Sexualität und nicht nur das Fehlen von Krankheit, Funktionsstörungen oder Gebrechen“; auf der Definition baut der Luxemburger Mehrjahresplan auf. Sexuell gesund zu sein, bedeutet demnach, sich wohl im und mit dem eigenen Körper zu fühlen und adäquate Gesundheits- oder Beratungsdienste erhalten, sollte dies nicht der Fall sein. Es existieren unterschiedliche Ansätze, um die sexuelle Gesundheit zu fördern: in der Erziehung, wenn es darum geht, Werte gesunder und einvernehmlicher Sexualität zu vermitteln, juristisch, wenn es darum geht, das Recht der Selbstbestimmung und körperlichen Unversehrtheit abzusichern und diesbezügliche Verstöße zu ahnden, in der Gesundheitsversorgung, wenn beispielsweise durch sexuelle Gewalt Traumatisierte Unterstützung brauchen oder Frauen unerwünscht schwanger werden.
Was macht das Cesas?
Weil das Feld der sexuellen Gesundheit weit und die Zahl der Akteure groß ist, und weil das Thema nicht ohne politische Brisanz ist, schließlich zählen ideologisch umkämpfte Themen wie die Abtreibung dazu, hat die Regierung 2017 das nationale Referenzzentrum für die Förderung der affektiven und sexuellen Gesundheit, Cesas, ins Leben gerufen. Es soll sich mit Vertretern der vier Ministerien konzertieren, Fortbildungen für Fachpersonal anbieten, BürgerInnen helfen, neutrale, wissenschaftlich valide Informationen zu bekommen sowie Akteure und Aktivitäten, die bislang teils lose vernetzt waren, zusammenbringen. Allerdings ist fraglich, ob das Zentrum diese Funktion derzeit optimal erfüllt. „Die Kernkompetenzen sind im Aufbau“, sagte die Cesas-Direktionsbeauftragte Isabel Scott; die Vernetzung der Teilbereiche sei „eine Herausforderung“, die Zeit brauche. Laut Aktionsplan wird unter dem Stichwort „Entwicklung und Verstärklung des Netzwerks zur Zusammenarbeit mit den verschiedenen Bereichen und den implizierten Fachpersonen“ speziell das Cesas aufgeführt.
Seit seiner Gründung ist öffentlich nicht viel über die konzeptuelle und zusammenführende Netzwerkfunktion des Cesas bekannt geworden. Auf der Konferenz in Walferdingen präsentierte dessen Leitung eine Broschüre der Akteure, die im Netz nachzulesen ist. In Zusammenarbeit mit Fachorganisationen und fanden Konferenzen rund um die sexuelle und affektive Gesundheit statt. Aber welche Gesamtstrategie die Akteure verfolgen und umsetzen, um sexuelle Gesundheit zu fördern und welche Impulse und welches fachliches Input das Cesas dabei leistet, ist für externe BeobachterInnen schwer zu erkennen.
Konferenz ohne Kontroverse
Auch die Konferenz am Dienstag brachte nicht viel Erhellendes. Statt sich zu Aktionen für den neuen Plan zu äußern, bestehende Lücken benennen und so eine kritische Rezeption des Plans zu ermöglichen, hielten Organisationen wie Femmes en détresse oder die Aidsberodung Impulsreferate über ausgewählte Initiativen und Projekte, die deren Stellenwert im Aktionsplan unklar blieb. Herausforderungen wurden kaum angesprochen, eine kontroverse Fachdiskussion gab es nicht.
Dabei gäbe es fünf Jahre nach der Vorstellung des ersten Plans allerlei zu klären. Denn um den neuen Aktionsplan zu erstellen, waren vor zwei Jahren Arbeitsgruppen zu verschiedenen Themenschwerpunkten ins Leben gerufen worden, die über die weitere Vorgehensweise und konkrete Projekte beraten sollten. MedizinerInnen, SozialarbeiterInnen und andere Sachverständige sind keineswegs alle einer Meinung. Es gibt unterschiedliche inhaltliche Vorstellungen, je nach Zielgruppe. Und es gibt philosophische Gegensätze. Und die betrifft nicht nur den viele Jahre lang hart umkämpften Schwangerschaftsabbruch.
Ein kontroverses Thema sind beispielsweise sexuelle Dienstleistungen für Menschen im Alter oder Menschen mit Behinderungen. Von den einen als Weg gepriesen, Personen, die sich selbst nicht berühren können oder sonst Schwierigkeiten haben, Sex zu erleben, eine selbstbestimmte Sexualität zu erlauben, lehnen andere, wie das Planning familial dies ab. Sie sehen darin eine Kollision mit der sexuellen Selbstbestimmung von Frauen: In Ländern, in denen es die Sexualassistenz gibt, werden die Dienste vornehmlich von Männern gefordert und beansprucht und von Frauen geleistet. Der weibliche Körper wird zur käuflichen Ware.
Nicht einmal Behindertenvereine sind sich bei dem Tabuthema einig: Als der an Muskelschwund erkrankte französische Aktivist Marcel Nuss den ungehinderten Zugang für Behinderte zur Prostitution forderte, konterte die Behindertenorganisation Femmes pour le dire, femmes pour agir mit der Forderung nach einer „tiefgründigen Reflexion“ über die menschliche Sexualität. „En aucun cas la prostitution, quel que soit son habillage, ne peut constituer une réponse“, schrieb deren Präsidentin Maudy Piot. Die Antwort könne nicht eine zusätzliche Dienstleistung sein, sondern „l’ouverture de l’environnement en termes de réelle accessibilité, pour permettre la multiplication des opportunités de rencontres, comme par exemple dans les lieux de loirsirs“.
Selbstbestimmung: wie, für wen?
Mit der Sexualassistenz, so ihre Kritik, entledige sich die Mehrheitsgesellschaft ihres schlechten Gewissens, dass sie solche Räume nicht nur nicht schafft, sondern oft sogar behindere. Nicht-behinderte und behinderte Menschen begegneten sich kaum, viele Behinderte leben in Einrichtungen, die sie selten verlassen, um unter andere Menschen zu kommen. Auch im Heim sind sie nicht selten vereinzelt und isoliert, was die Gefahr erhöht, dass sie Opfer unerwünschter sexueller Aktivtäten oder Missbrauch werden, ein weiteres Tabu in der Debatte um sexuelle Gesundheit bei Menschen mit Behinderungen. Eine diesbezügliche Arbeitsgruppe wird von Info-Handicap koordiniert. Doch außer der Idee einer Partnerbörse stockt der Reflexionsprozess, der sich als schwierig, weil kontrovers entpuppt.
Ähnlich delikat ist die Debatte um Sexualität im Alter, die vor Jahren von der Confédération des organismes prestataires d‘aides et de soins (Copas) angestoßen wurde, aber bis heute zu keinem Konsens im Sekteur geführt hat: Sollen Seniorenheime männliche Bewohner zu Bordellen fahren, damit sie dort sexuelle Bedürfnisse ausleben? Welches Bild von Sexualität und Beziehungen steht dahinter, wenn davon ausgegangen wird, Menschen, oder vielmehr Männer hätten ein Recht auf Sexualität, das um den Preis der Vermarktung des weiblichen Körpers erfüllt werden muss? Was bedeutet diese Sichtweise für andere Männer, die Schwierigkeiten haben, Zugang zu Frauen zu finden? Es sind Fragen wie diese, die einer Klärung harren. Aktionsplan hin oder her – niemand scheint bisher einen Weg gefunden zu haben, wie diese konfliktträchtige Themen angegangen und professionelle weiterführende Haltungen gefunden werden können, die dann in konkreten Aktionen münden.