Placebos haben einen schlechten Ruf. In Frankreich wurde Mitte Juli beschlossen, dass ab 2021 die Krankenkasse die Kosten für homöopathische Mittel nicht mehr rückerstattet, mit der Begründung, sie würden über den Placebo-Effekt hinaus nicht wirken. Quer durch Mitteleuropa konnte man der Öffentlichkeit in Tweets und Medienbeiträgen den Puls zu Placebos nehmen. Dumme Sprüche und ernste Aussagen wurden gepostet und geteilt. Empörte und Partei ergreifende, aber auch abwägende Artikel machten die Runde.
Was aber ist der Placebo-Effekt? Seit wann spielt er eine Rolle in der Medizin? Und was verrät er uns über das Selbstverständnis der modernen Medizin und ihren Körperbegriff?
Seit spätestens Mitte Juli hat also jeder von dem aus schulmedizinischer Sicht unbeliebten Placebo-Effekt gehört. Von ihm ist die Rede, wenn die Arzt-Patient-Interaktion einen symptomschwächenden Einfluss aufzeigt. Aber auch die Besserungserwartung des Patienten kann den Verlauf einer Krankheit positiv stimmen. Der Placebo-Effekt schleicht sich demnach in jede medizinische Prozedur ein, die den Akzent auf die Wirksamkeit einer Methode legt. Er ist also nicht nur Teil von Placebo-Verabreichungen, sondern der ungezähmte Gast, der in jeder Therapie mitmischt.
Um herauszufinden, ob eine neuentwickelte pharmakologische Substanz effizient ist, wird ermittelt, inwiefern sie sich im Vergleich zu wirkstofflosen Zuckerpillen durchsetzt. Dafür wird sozusagen die Placebo-Reaktion von der Gesamtreaktion subtrahiert. Die Placebo-Reaktion wird dabei seit den 1950er Jahren durch placebokontrollierte Doppelblind-Studien erfasst; Studien also, in denen weder der Patient noch der Arzt weiß, wer in der Placebo-Gruppe ist und wer nicht, um die Interaktion möglichst unverfälscht zu halten. In einem Artikel in der New York Times mit dem Titel „What if the Placebo Effect Isn’t a Trick?“ schreibt der Autor Gary Greenberg, der Placebo-Effekt besitze demnach eine außergewöhnliche Doppelnatur: Er wird als Bestandteil jeder Behandlung anerkannt, zugleich aber als unwichtig abgetan.
Neben dem Placebo-Effekt ist manchmal auch vom „Nocebo-Effekt“ zu lesen. Der Nocebo-Effekt beruht auf ungünstigen Auswirkungen eines medizinischen Therapieverfahrens. Beispielsweise kann er auftreten, wenn ein Arzt besonders negative Aspekte (schädliche Nebenwirkungen, keine Aussicht auf Heilung) einer Therapie betont. Der bekannteste Fall ist womöglich der eines Suizidversuchs eines damals 26-jährigen US-Amerikaners mit einem Scheinmedikament: Der Mann schluckte 29 Kapseln, die er für seine Teilnahme an einer Studie über Antidepressiva bekommen hatte. Wenig später wird er zitternd und mit schwachem Blutdruck in die Notaufnahme eingeliefert. Dort kollabiert er. Doch die Ärzte finden heraus, dass der Patient in der Placebo-Gruppe ist. Sie teilen ihm seine Zuckerpillen-Überdosis mit, woraufhin sich der Eingelieferte rasch erholt.
Manchmal sollen Placebos auch helfen, alternative Verfahren und deren theoretischen Überbau zu überprüfen. Wie beispielweise in Bezug auf die Akupunktur: Besteht ein kausaler Zusammenhang zwischen der traditionellen chinesischen Körperauffassung und dem Setzen der Akupunkturnadeln? Karin Meissner vom Institut für Medizinische Psychologie an der Universität München hat das untersucht. Sie steckte einer Probandengruppe Akupunkturnadeln an willkürlich ausgewählte Stellen in den Körper, einer anderen Gruppe an jenen Körperstellen, die die Traditionelle Chinesische Medizin zur Besserung vorsieht. Auch bei dieser Studie wussten die Probanden nicht, in welcher Gruppe sie waren. Resultat: Der Unterschied war nicht beachtenswert.
Erforscht ist mittlerweile, dass Placebos bei chronischen Rückenschmerzen, Depression, Nebenwirkungen bei Chemotherapien, Migräne und Posttraumatischem Stress-Syndrom (PTSD) Abhilfe schaffen können. Sehr wahrscheinlich ist, dass sich diese Liste bald noch verlängern wird. Dabei können auch weitere scheinbar kaum beachtenswerte Faktoren einen Einfluss haben: Teure Medikamente wirken angeblich besser als billige. Form, Farbe und Größe von Kapseln wirken zusätzlich suggestiv1.
Damit ein Placebo wirkt, müssen nicht mal Doppelblind-Studien veranlasst werden. Behandelnde können Patienten auch direkt mitteilen, dass sie inaktive Substanzen einnehmen, ohne ihnen etwas „vorzugaukeln“. Eine solche Studie wurde von Ted J. Kaptchuk im Jahr 2010 publiziert. Die Teilnehmer des Versuchs waren Personen, die unter dem Reizdarmsyndrom litten und angaben, dass das Placebo ihre Symptome linderte. Placebos seien besser als ihr Ruf, da ist sich Kaptchuk sicher, und durch ihre Untersuchung will er sinnvolle Antworten auf menschliche Beschwerden finden. Auch diese Studie besagt, wie bereits andere davor: Placebos würden gerade dann wirken, wenn der Arzt sich Zeit nimmt, auf das Leiden der Patienten eingeht und ihnen mit Zuversicht den nicht-pharmakologischen Ersatz in die Hand drückt.
Dauerkritiker von Kaptchuk ist der Chirurg David Gorski. Im Blog2 Science Based Medicine schreibt er, das Echo rund um Kaptchuks Studie sei überzogen. Denn die Probanden hätten nur eine minimale Besserung angegeben – eine Steigerung, die er für klinisch irrelevant hält. Zudem seien keine objektiven körperlichen Indikatoren erhoben worden, nur subjektive, die das Wohlbefinden ergründeten. Doch klinisch aussagekräftige Messwerte liegen zumindest für Placebo-Kontrollgruppen seit Jahren vor. Daten zu Blutdruckwerten3 oder der Herzfrequenz beispielweise wurden erhoben. Und es werden stets präzisere Daten zu physiologisch messbaren Auswirkungen gesammelt, mittlerweile liegen sogar Daten aus funktionellen Magnetresonanztomografien vor. In Nature Communications erschien 2018 ein Artikel4, der behauptet, die Wirksamkeit von Placebos bei Personen mit chronischen Rückenschmerzen würde mit psychologischen, neuroanatomischen und neurophysiologischen Voraussetzungen zusammenhängen. Dies wiesen die Forscher und Forscherinnen auf den Scans nach. Sie erhoffen sich durch weitere Studien bald auch mehr über Heilungsmechanismen allgemein zu erfahren.
Laut einem im April im Monde diplomatique erschienen Artikel gebe es kein soziologisches Mustermannprofil, von dem aus man auf Placebo-Rezeptivität schließen könnte. Intelligenz und sozialer Hintergrund hätten keinen Einfluss. Der Artikel deutet darauf hin, die Placebo-Rezeptivität hänge mit den Genen zusammen, die für die Produktion von unter anderem Serotonin und Opioi-
den zuständig sind. Es scheint nun so, dass auch die alleinige Reduzierung auf rein psychologische Mechanismen, wie die Erwartungshaltung oder pawlow’sche Konditionierung, zu kurz greift, um die Placebo-Wirkung zu erklären.
Aber nicht nur, weil die Placebo-Wirkung typenabhängig ist, sollten Verallgemeinerungen unterlassen werden, sondern auch, weil es unterschiedliche Krankheitsursachen und Verläufe gibt. Infektionskrankheiten beispielsweise kann man wohl kaum effektiv mit wirkstofffreien „Zuckerkügelchen“ entgegentreten. Ist die Krankheit viraler oder bakterieller Natur, sind pharmakologische Substanzen unumgänglich, dann braucht es selbstverständlich Antibiotika oder anderweitige medikamentöse Behandlungen. Insulin bei Diabetes und Impfstoffe sind weitere Beispiele für besonders gezielt wirkende Stoffe. Bei chronischen, durch Stress ausgelöste Symptomen, können auf dem Placebo-Effekt beruhende Verfahren unterstützend wirken.
Befürworter einer verstärkten Erforschung von Placebos sind sich zudem sicher, dass diese die Antwort sind auf eine sich in der Krise befindende Pharmaindustrie. Wie beispielsweise die Molekularbiologin Kathryn Hall, die Ende Juni in der Schweiz einen Vortrag auf der Tagung „The Science of Consciousness“ hielt. Immer weniger neu entwickelte Medikamente bestehen ihres Erachtens den Placebo-Test, sie sind also nicht wirksamer als Placebos. Gerade deshalb sei es an der Zeit, die möglichen positiven Effekte von Placebos gezielter in der Schulmedizin zu nutzen.
Die heute an der Harvard School of Medicine Tätige begann sich für die Placebo-Wirkung zu interessieren, als bei ihr das Karpaltunnelsyndrom festgestellt wurde. Das verschriebene Codein half nicht. Eine Freundin meinte, sie solle es doch mit Akupunktur versuchen. Nach anfänglicher Skepsis ließ Hall sich überreden. Was sie im Nachhinein nicht bereut, denn bereits nach der ersten Behandlung verschwanden die Schmerzen. Hall sagte vor etwa tausend Zuhörern: „Hauptsache, die Schmerzen verschwinden, ob aufgrund des Placebo-Effekts oder weshalb auch immer, ist dir in dem Moment egal.“ Darüber hinaus könnte ihr zufolge die Integration von Placebos in die Schulmedizin dem Umstand entgegenwirken, dass sich verstärkt Praktiken ausbreiten, die sich jenseits jeglicher öffentlicher Kontrolle bewegen.
Dass eine Molekularbiologin dem Rat einer Freundin vertraut und sich daraufhin der Akupunktur zuwendet, mag erstaunen. Doch angesichts der Debatten um Verschwörungstheorien und Impfgegner verweist die Philosophin Åsa Wikforss darauf, dass es bei Wissen auch um Vertrauen geht. Vieles von dem, was wir wissen oder meinen zu wissen, wissen wir über Freunde. Und wir vertrauen in der Regel den Aussagen und Urteilen unserer Freunde und unseres Umfelds. Insofern basiere Wissens-
aneignung ebenfalls auf Vertrauen5. Eine rezente US-amerikanische Studie hat zudem gezeigt, dass Ärzte, wenn sie selber zu Patienten werden, nur bedingt besser abschneiden als andere Patienten, wenn es darum geht, die qualitativ beste und kostenvernünftigste Behandlung auszuwählen. Eine mögliche, vorsichtig geäußerte Erklärung könnte sein, dass Patienten (auch wenn es sich dabei um Mediziner handelt) einen eher achtungsvollen Umgang mit den Empfehlungen der behandelnden Ärzte pflegen. Die Wissenschaftler der Duke University schlussfolgern, die gut Informierten wählen demnach nicht zwangsläufig die Dienstleistungen mit dem höchsten medizinischen Wert. Kampagnen der Gesundheitsministerien werden jedoch mit dem Verständnis designt, dass ein Haupthindernis für eine hochwertige Gesundheitsversorgung der Mangel an Wissen der Patienten sei. Dies sei ihrer Studie zufolge allerdings nicht der einzige Faktor6.
Ob Kathryn Hall mit ihrer Empfehlung, die Schulmedizin solle sich mit Placebos beschäftigen, Gehör findet, bleibt fraglich. Denn die Vorsicht gegenüber alternativen Verfahren oder dem Placebo-Effekt stammt nicht von gestern. Sie geht vor allem auf den Trubel rund um den Arzt Franz Anton Mesmer (1734-1815) zurück. Mesmer betrieb in Wien eine grundsätzlich erfolgreiche Praxis, in der er eine eigene Methode des Heilens anwandte. Er nannte sie den Mesmerismus. Laut ihm gibt es im Universum ein „Fluidum“, eine universale Lebenskraft, die Krankheiten verursacht, wenn sie nicht frei fließen kann.
Mesmer war populär, hatte jedoch auch viele Kritiker, die seine Ansichten bestritten. Eine Kommission verwies ihn schließlich der Stadt. Er zog nach Paris, wo ihn wiederum Personen mit chronischen Schmerzen aufsuchten. Mesmer sang oder spielte Instrumente während der Behandlung und tastete mit den Händen Stellen ab, um sein Fluidum zu transferieren. Eine Wanne mit Stahlstäben sollte dabei behilflich sein, das unsichtbare Fluidum zu verbreiten. Seine Patienten verfielen in Krämpfe, verloren manchmal das Bewusstsein. Ein Zustand, auf den nach einigen Angaben von Behandelten innere Harmonie folgte. Wieder wuchs also in Paris der Andrang in Mesmers Praxis und wieder die Aufmerksamkeit der Kollegen. Dies auch, weil Mesmers Anhänger und Lehrlinge begannen, immer mehr Fallberichte zu publizieren.
Besonders störte seine Kritiker, dass Mesmer der Überzeugung war, er könne durch seine Person das Fluidum in den Körpern seiner Patienten verstärken. Das roch nach Übernatürlichem, womit ihm seine Kritiker ein „quasi religiöses Sendungsbewusstsein“ nachsagten. Schließlich wurde 1784 von Ludwig XVI. eine Kommission einberufen; ihr gehörten unter anderem Antoine Laurent de Lavoisier und der spätere US-amerikanische Präsident Benjamin Franklin an.
Eine Reihe an Versuchen wurde durch diese Kommission veranlasst, in denen Mesmer und seine Lehrlinge Handlungen an Patienten vortäuschten, die nicht im Sinne des eigentlichen Mesmerismus waren, also auch aus Mesmers Sicht „Fake“. Aber auch solche, die dem Mesmerismus entsprachen. Da Mesmer und seine Auszubildenden selber an einer Evaluation ihrer Heilpraxis interessiert waren, kooperierten sie bereitwillig. Die Kommission kam schließlich zu dem Ergebnis, dass keine kausale Verbindung zwischen der Tätigkeit der Heiler und der Besserung des Patienten festzustellen sei: Wenngleich Symptomlinderungen beobachtet wurden, basiere die Wirkung rein auf der Einbildungskraft. Dies weil sie in beiden Fällen auftrat, also den „vorgetäuschten“ Handlungen und jenen, die dem Mesmerismus zuzuordnen waren. Mesmers postuliertes Fluidum existiere jedenfalls nicht. Der Kommission ging es dabei nicht darum, Mesmer als Betrüger zu entlarven. Jeder könne aus falschen Annahmen handeln und trotzdem irgendwie „Gutes tun“. Es ging ihr vielmehr darum festzustellen, ob seine Annahmen wahr oder falsch sind. Und also, ob die Patienten sozusagen aus den „richtigen“ Gründen eine Linderung ihrer Leiden spürten. Die Imagination und Subjektivität ist von nun an das, was aus dem Patienten bei therapeutischen Prozeduren extrahiert werden soll.
Mesmers kosmologische Spekulationen muten vielleicht außergewöhnlich an. Aber zu seiner Zeit wurden sie von vielen als eine Spielart des Newtonismus betrachtet, und der war kaum exotisch. Immerhin schrieb Isaac Newton in seinen Principia von einem „most subtle spirit which pervades and lies hid in all gross bodies“. Der Mesmerismus war ein Erklärungsversuch dieses subtilen Geistes. Auch wirkt Mesmers Methode heute wie ein streng überwundener Firlefanz aus früheren Zeiten. Für den Medizinhistoriker Heinz Schott ist Mesmer dennoch als großer Wegbereiter der modernen Psychotherapie einzuordnen. Schott zufolge ging aus dem Mesmerismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Hypnose hervor, die damals in psychotherapeutischen Patientenbehandlungen eine Rolle spielte. Sigmund Freud, der Initiator der Psychoanalyse, würde in der Tradition der Hypnotismus wurzeln und eben auch seine Annahmen über das Unbewusste. Später wird er dieses Erbe jedoch leugnen7.
In ihrem Werk L’hypnose entre magie et science geht die Wissenschaftsphilosophin Isabelle Stengers ebenfalls auf Mesmer und die Hypnose ein. Sehe man sich die Geschichte des Mesmerismus an, falle auf, dass letztlich die Kritiker dieser Strömungen geschickt die Frage der Definition und der genauen Verortung der Imagination umgingen. Demnach wurde auch die Möglichkeit ausradiert, Überlegungen anzustellen, die auf eine Integration der Imagination ins Design klinischer Studien abzielen. Alles naturwissenschaftlich nicht Messbare wurde einfach auf das Gleis der Nichtwissenschaftlichkeit gestellt und abgestempelt.
In diesem Gefüge nimmt das letztlich zwar nichtssagende Geplänkel über „das ist ja alles nur Suggestion“ allerdings eine politische Dimension an. Denn die, die darauf antworten möchten, dass die Suggestion wohl dennoch zur Wirklichkeit gehört, werden in politischen Debatten zu Parias erklärt.
Doch vermutlich ist es nicht verkehrt, sich manchmal als Störenfried aufzuführen und zu fragen, ob in manchen Bereichen nicht einfach unsinnige Unterscheidungen zwischen Geist und Natur getroffen werden. Denn es ist schwerlich bestreitbar, dass die Humanmedizin ein verworrenes Feld ist, in dem es auf unterschiedlichste Faktoren ankommt, auf ein bio-psycho-soziales Gefüge. Auf einen Kontext, in dem sich Patienten wohlfühlen oder eben isoliert. Medizinische Prozeduren entfalten sich in komplexen Geflechten. Dabei geht es auch um die Frage, in welchem Narrativ eine Krankheit gedacht und in die eigene Biografie integriert werden kann. Das behaupten Medizinanthropologen von Beginn an.
Während das Bio-Psycho-Sozial-Paradigma eigentlich einleuchtend ist und banal klingt, sind es dessen Implikationen weniger (siehe „Werdende Väter“). Denn wo beginnt und wo endet das Soziale, das Psychische, das Biologische? Wo verkörpern sich Vorstellungen? Und inwiefern sind Vorstellungen abhängig von unserer biologischen Ausstattung?
Das Körper-Geist-Dilemma füllt seit Jahrhunderten Bücherregale, erzielt jedoch keinen Konsens unter Philosophen, Naturwissenschaftlern und anderen Gelehrten. Die Spielarten des Dualismus und Monismus multiplizieren sich, können aber nicht lückenlos erklären, wie Erlebnisgehalte entstehen. Es wird jedoch immer schwieriger zu bestreiten, dass Beziehungen genuin intersubjektiver Art sind. Und dass Körper eine leiblich-subjektive Dimen-
sion haben. Körper sind keine rein messbaren Objekte; sie sind der Ort, an dem sich komplexe Affekte und Vorstellungen entfalten. Und die Fragen, die rund um den Placebo-Effekt aufkommen, sind Ausdruck von all dem.
Werdende Väter
Das Couvade-Syndrom veranschaulicht die Verflochtenheit unterschiedlicher Einflussfaktoren besonders eindrücklich. Unter dem Begriff fasst man die zeitgleich zur Schwangerschaft der Partnerin auftretenden schwangerschaftsähnlichen Symptome bei Männern. Morgenübelkeit, Stimmungsschwankungen, Kopfschmerzen und Gewichtszunahme sind nur einige der möglichen Veränderungen.
Diese Art Phantom-Schwangerschaft taucht in westlichen Fallberichten seit den 1950ern vermehrt auf. Rituelle Vaterschaftsbräuche beziehungsweise das „Mannskindbett“ waren davor allerdings bereits für andere Kulturkreise von Ethnologen dokumentiert worden.
Ob sich nun das Vaterschaftsverständnis in der Mitte des Jahrhunderts verändert hat, oder ob sich diese Fallberichte häuften, weil bis dahin „sympathetische“ Schwangerschaften prinzipiell ausgeschlossen wurden, bleibt unklar. Der Begriff bleibt zudem bis heute umstritten. Auch die Ursachen werden in der Forschung kontrovers diskutiert. Einige sozialpsychologische Theorien betonen, dass die Symptome sich in engen Beziehungen durch Empathie bedingt manifestieren. Andere Ansichten sind weniger aufhellend. Sie behaupten, die Symptome träten aufgrund von Unsicherheiten und Stress in Bezug auf die Vaterrolle auf. Äußern würden sie sich dann psychosomatisch.
Biologische Studien hingegen weisen darauf hin, dass der Prolaktinspiegel bei werdenden Vätern deutlich steigt. Zudem fällt in der Regel der Testosteronwert von Männern in festen Beziehungen. Interaktionen mit Kleinkindern können den Wert zusätzlich verringern. Diese Neukalibrierung des Hormonhaushalts (höhere Prolaktinwerte, niedrige Testorsteronwerte) befördern fürsorgliches Verhalten.
Am plausibelsten ist demnach wohl, dass die Symptome aus einem Cocktail von bio-psycho-sozialen Faktoren resultieren. In diesem Bereich sich bedingende, handfeste Kausalitäten markieren zu wollen, bleibt natürlich ein Fass ohne Boden. sm