„Es ist absurd“, sagt Camille Muller (Name geändert, d. Red.). „Die Schlagzeilen könnten das Geschäft schädigen, obwohl wir nur zertifizierte Produkte von einem anerkannten Hersteller beziehen.“ Der Franzose arbeitet in einem der Handvoll Läden in Luxemburg, die sich auf E-Zigaretten spezialisiert haben. Über die Nachrichten, die derzeit aus den USA kommen, schüttelt er den Kopf. „Die E-Zigarette dafür haftbar zu machen, ist, wie dem Feuerzeug die Schuld dafür zu geben, dass Leute von Nikotin abhängig werden.“
Elf Todesfälle, vermutlich ausgelöst durch den Gebrauch von E-Zigaretten, haben US-Gesundheitsbehörden bis zum heutigen Freitag registriert. Mehr als 700 E-Zigarettennutzer aus 38 Bundesstaaten wurden mit akuten Atembeschwerden in Krankenhäuser eingeliefert. Anfang September verbot Michigan als erster Bundesstaat (San Francisco hatte den Verkauf von E-Zigaretten im Juni untersagt) aromatisierte E-Liquids; es folgten New York und Rhode Island. Massachusetts stoppt den Verkauf von Liquids für E-Zigaretten vorerst für vier Monate. US-Präsident Donald Trump, für seine halbherzigen Maßnahmen in der Opioid-Krise vielfach gescholten, denkt sogar laut über einen permanenten Bann von E-Zigarettenprodukten nach.
Panikmache Doch während Horrorgeschichten über kollabierende Teenager, die nicht mehr ohne Lungenmaschine atmen können, über amerikanische Bildschirme flackern und sich rasend schnell über soziale Netzwerke verbreiten, ist die Faktenlage sehr viel weniger deutlich. Tatsächlich ist die genaue Todesursache bisher bei keinem der gemeldeten Fälle bekannt, räumt Centers for disease control and prevention (CDC) in Washington D.C. ein. Die meisten, fast drei Viertel der bisher 373 näher untersuchten Krankheitsfälle, sind junge Männer zwischen 18 und 34 Jahren. Alle Betroffenen wurden mit teils erheblicher Atemnot eingeliefert, ihre Lungen funktionierten nicht mehr normal, bis hin zum Kollaps. Manche meldeten überdies Brechreiz und Durchfall. Vermutlich ausgelöst durch Inhaltsstoffe, die sie durch den Dampf der E-Zigarette einatmeten. Welche genau ist unklar. Derzeit verdichten sich Hinweise, wonach Erkrankte neben Nikotin THC, ein Inhaltsstoff von Cannabis mit berauschender Wirkung, in flüssiger Form konsumiert haben sollen. In Verdacht steht außerdem ein synthetisches Vitamin-E-Derivat, Tocopherylacetat.
Fakt ist aber auch: In der EU, wo E-Zigaretten allmählich populärer werden und diesbezügliche Vorschriften 2014 verschärft wurden, ist bisher kein Krankheitsfall bekannt, geschweige denn ein Todesfall. „Das wissen wir von Gesundheitsbehörden der übrigen Mitgliedstaaten, mit denen wir vernetzt sind. Die EU-Kommission steht außerdem in Kontakt mit den US-amerikanischen Behörden“, sagt Pedro Marques, im Gesundheitsministerium zuständig für die Zulassung und Kontrolle von Tabakerzeugnissen. Lediglich aus der Schweiz wurde ein – offiziell unbestätigter – Verdachtsfall gemeldet: Eine 44-jährige Asthmatikerin war im Januar mit schweren Atemwegsbeschwerden per Notdienst in ein Winterthurer Spital eingeliefert worden. Die Symptome der Frau, die E-Zigarette ohne Nikotin geraucht haben soll, waren ähnlich wie die in den USA berichteten: kurzer Atem, Auswurf und eine sehr schlechte Lungenfunktion.
Eine mögliche Ursache: In den USA sind Inhaltsstoffe in den Liquids erlaubt, die in Europa auf dem Index stehen. Etwa Diacetyl, eine organische chemische Verbindung aus der Gruppe der Ketone, die stark nach Butter riecht und über die fälschlich berichtet wurde, sie würde Popcorn-Lunge bei E-Zigarettennutzern verursachen. Dabei ist Diacetyl in sehr viel höherer Konzentration in regulären Zigaretten enthalten. Beobachtet wurde die Erkrankung, bei der die Bronchien sich chronisch entzünden, bei Arbeitern, die Mikrowellenpopcorn herstellten, daher der Name.
Strengere Grenzwerte Die meisten in Luxemburg erhältlichen Liquids enthalten Nikotin und fallen daher unter das Tabakgesetz. Es verpflichtet Hersteller, alle Inhaltsstoffe in absteigender Reihenfolge ihres Gewichtsanteils auf der Packung aufzulisten. Hauptbestandteile der nikotinhaltigen Liquids sind: das wasserbindende Propylenglykol und/oder der Zucker-Alkohol Glyzerin sowie Aromen und eben Nikotin. In der EU dürfen nicht mehr als 20 Milligramm Nikotin pro Milliliter Liquid enthalten sein. Aufputschende Zusatzmittel wie Koffein, Guarana oder Matcha sind verboten. Das wird, laut Gesundheitsministerium, bei Neuzulassungen nachkontrolliert. Der höchste Nikotinanteil, den das Land in einem Kiosk in Luxemburg-Stadt fand, lag bei 19 Milligramm. Nikotinfreie Liquids sind hierzulande ebenfalls käuflich, sie fallen nicht unter die Tabak-Vorschriften, dürfen aber – wie nikotinhaltige – nicht an Minderjährige verkauft werden.
Gesundheitsbehörden in der EU sind sich einig: Das Vapen oder Vaping, also das Inhalieren von Dampf über ein E-Gerät ist, da der Dampf weniger giftige Stoffe enthält, weniger gesundheitsschädigend als das Rauchen einer herkömmlichen Zigarette; abgesehen vom süchtig machenden Nikotin, das aber nicht krebserregend ist. Die britische Gesundheitsbehörde ging einer Studie von 2015 zufolge sogar davon aus, dass eine E-Zigarette, mit zulässigen geprüften Inhaltsstoffen genutzt, bis zu 95 Prozent weniger gefährlich ist und Verbrauchern, die mit dem Rauchen aufhören wollen, bei ihrem Ausstieg helfen könne.
Unklare Nebenwirkungen Seriöse Vertreiber von E-Zigaretten raten Anfängern ohnehin meist dazu, den Nikotinwert langsam zu senken und aromatisierte Liquids in einer ersten Phase zu vermeiden. Heidelbeere, Schoko, Erdbeere, natürlich Tabak und Waldmeister sind nur einige von vielen Geschmacksrichtungen. Das Problem: Oftmals ist die genaue Zusammensetzung der jeweiligen Aromastoffe nicht klar; manche Inhaltsstoffe wie das in der EU verbotene Benzaldehyd stehen im Verdacht, gesundheitsschädigend zu sein. Aromastoffe sind, bis auf gesetzlich geregelte Ausnahmen, grundsätzlich erlaubt, allerdings: Geprüft und zugelassen werden sie unter Lebensmittelaspekten; was fehlt, sind Langzeitstudien, die ihre Wirkung beim Inhalieren untersuchen.
Die wenigen Studien, die existieren, sind mit Vorsicht zu lesen. Forscher der Duke University School of Medicine in North Carolina verglichen kürzlich Zigaretten, Kautabak und E-Zigaretten auf die darin enthaltene Konzentration des Inhaltsstoffs Pulegon. Pulegon ist ein natürlicher Bestandteil unter anderem der Poleiminze und steht im Verdacht, krebserregend zu sein. Andere Wissenschaftler, die mit den Ergebnissen konfrontiert wurden, kritisierten aber die begrenzte Aussagekraft, weil dabei nur die Konzentration in den E-Liquids gemessen wurde, nicht aber in den Konsumierenden selbst und im ausgeatmeten Dampf. In der EU stehen verarbeitete Bestandteile, Extrakte und Öle, die aus der Pflanze Poleiminze stammen, ohnehin auf dem Index.
„Wir empfehlen die E-Zigarette nur als letzte Möglichkeit, wenn andere Nikotinersatzmittel nicht angeschlagen haben“, sagt Lucienne Thommes von der Fondation Cancer. Einer Umfrage der Stiftung zufolge gab es hierzulande 2017 hochgerechnet rund 6 000 E-Zigarettennutzer, das sind 1,2 Prozent der Befragten gegenüber 21 Prozent, die herkömmliche Zigaretten rauchen. Für Jugendliche sei die E-Zigarette schon gar nicht geeignet. „Zum Glück sind bei uns Produkte wie Juul verboten“, so Thommes.
Juul ist ein in Kalifornien ansässiges Start-up, dessen E-Zigaretten zu den Marktführern in den USA zählen und sich dort besonderer Beliebtheit bei Jugendlichen erfreuen. Es handelt sich um eine USB-Schlüssel-ähnliche E-Zigarette, die mit wiederaufladbaren Kartuschen befüllt wird. Juul-Ampullen enthalten mit bis zu 59 Milligramm pro Milliliter deutlich mehr Nikotin als in Europa erlaubt. Geraucht wird Juul in schlanken farbigen E-Stiften. In Juul-Liquids wiesen Wissenschaftler der Yale-Universität giftige Chemikalien (Acetale) nach, die der Hersteller nicht angegeben hatte. Darüber hinaus wird den Machern vorgeworfen, ähnlich wie die Tabakkonzerne, mit ihrer Werbung gezielt die Jugend ins Visier genommen zu haben. Die aber sind sich der schädlichen Wirkung oft nicht bewusst. US-Gesundheitsexperten warnen, über die E-Zigarette wachse eine neue Generation Nikotinsüchtiger heran. In Luxemburg ist Juul nicht erhältlich, aber es gibt – nikotinreduzierte – Versionen seit vergangenem Jahr in Deutschland und Frankreich zu kaufen.
Außer Liquids sind in den USA auch Cannabis-Extrakte zum Verdampfen sehr im Kommen. Dabei handelt es sich um isoliertes hochkonzentriertes THC aus der Cannabispflanze, das ebenfalls in E-Zigaretten gedampft wird. Hersteller, wie die 2013 gegründete Firma Jetty Extracts in Kalifornien, werben mit den schicken, individuell dosierbaren Kartuschen und einem „puren, sauberen“ Geschmackserlebnis. Doch Einzelheiten zu dem angewandten CO2-Extraktionsverfahren und zu eventuellen Zusatzstoffen (um das THC herauszulösen oder das gewonnene Konzentrat wieder zu verdünnen) sucht man vergebens. Die gesundheitlichen Langzeitfolgen gedampften flüssigen THC sind nicht bekannt.
Vermutet wird zudem, dass viele der in den USA Erkrankten auf dem Schwarzmarkt oder im Internet gekaufte Produkte inhalierten. „Wichtig ist, wenn, dann nur zugelassene zertifizierte Produkte zu kaufen und Beschwerden dem Arzt zu melden“, meint Pedro Marques vom Gesundheitsministerium. Von der geplanten Legalisierung von nicht-medizinischem Cannabis sollen THC-Konzentrate von vornherein ausgenommen bleiben.
Besser als Glimmstängel
Bei einer E-Zigarette wird eine aromatisierte Flüssigkeit, die auch Liquid genannt wird – in einem Metallbehälter, der sich unter dem Mundstück befindet, erhitzt. Das Liquid kann neben Lösungsmitteln und verschiedenen Zusatzstoffen unterschiedlich hohe Konzentrationen von Nikotin sowie Aromastoffe enthalten. Der eingeatmete Dampf, das sogenannte Aerosol, das aus winzigen Partikeln besteht, enthält deutlich weniger Schadstoffe als der Tabakrauch.
Gänzlich harmlos ist aber auch der E-Zigaretten-Dampf nicht, wie mehrere Studien belegt haben. Demnach entstehen beim Verdampfen unter anderem freie Radikale und potenziell schädliche Chemikalien, die Entzündungen der Schleimhäute fördern und die DNA-Reparatur in den Zellen hemmen können – was wiederum das Krebsrisiko erhöht. Andere Studien haben ein erhöhtes Risiko für Herzinfarkte festgestellt.
Gängige E-Zigaretten arbeiten mit einem akkubetriebenen Verdampfer. Dessen Design unterscheidet sich je nach Hersteller. Das Liquid wird ebenfalls auf verschiedene Weise zugeführt: Manche Modelle haben aufsteckbare Behälter, andere funktionieren mit nachfüllbaren Tanks. Sowohl für die Behälter als auch für die Inhaltsstoffe in den Liquids gelten EU-weit gesetzliche Auflagen. ik