"Das ist ja ein Drama." Der Schlusssatz in Roger Vitracs Victor oder Die Kinder an die Macht (Victor ou Les enfants au pouvoir). Beschriebe Lili, das Mädchen der Titelfamilie Paumelle nicht die letzte Szene des Stücks, man könnte meinen, sie gebe eine kurze, jedoch prägnante Zusammenfassung des Schauspiels, oder vielmehr der Inszenierung des Stücks von Frank Hoffmann am Schauspiel Bonn. Das ist ja ein Drama.
Das Stück: Es ist der 12. September 1909 zwischen 20 Uhr und Mitternacht. Familie Paumelle - Vater Charles und Mutter Emilie - feiert den neunten Geburtstag ihres Sohnes Victor, eines Musterknaben. Eingeladen sind Victors sechsjährige nachbarliche Freundin Esther Magneau, deren Eltern Thérèse und Antoine sowie der General Etienne Lonségur. Eine illustre Geburtstagsgesellschaft, gegen deren abgewirtschaftete Spießigkeit und Verlogenheit Victor in seinem monströsen Benehmen und mit diabolischer Genialität angeht.
Etwa wenn er mit Esther in einem Hochzeitsspiel die brave Bürgermoral und die Doppelbödigkeit eines gutnachbarschaftlichen Verhältnis-ses demaskiert: Vater Charles betrügt Mutter Emilie mit Thérèse, der Frau seines besten Freundes Antoine. Doch nicht nur das Geburtstagskind, auch die Eltern und Gäste bringen das Fest gründlichst zum Scheitern, indem sie keine Peinlichkeit auslassen. Victor hat die Macht über die Erwachsenen ergriffen. In-stinktsicher erkennt Victor ihre Schwachpunkte und legt sie bloß, offen und wund.
Wie die Welt der Erwachsenen, in die - als sie völlig aus den Fugen gerät - Ida Totemar (im französischen Original: Ida Mortemart) eintritt als Dea ex machina. Ihr Fehler ist, dass sie unheilbar an Blähungen leidet. Für Victor Gelegenheit, auch sie zu brüskieren.
Am Ende liegen die Eltern tot auf der Bühne, der Titelheld selbst starb - nach einer ergreifenden Rede über das Schicksal eines Einzelkindes - wenige Minuten zuvor, kurz nachdem Antoine sich erhängte. Familienfeiern enden für gewöhnlich auf diesem Wege. Das ist ja ein Drama.
Als solches wollte Vitrac sein Stück jedoch nicht verstanden wissen. Uraufgeführt wurde es am Heiligabend 1928 im Theater seines Freundes Alfred Jarry, ein Wegbegleiter Vitracs im Frankreich zwischen Dada und Surrealismus. Nach zwei weiteren Aufführungen wurde das Stück abgesetzt und verschwand in den Schubladen. Nach Deutschland kam Victor erst in den Sechzigerjahren (Münchner Kammerspiele, 1962) im Zuge des Absurden Theaters, als dessen Vorläufer und Wegbereiter Roger Vitrac heute interpretiert wird.
Doch Vitrac ist - seiner Zeit gemäß - auch Boulevardtheater, wenn er sich diesem auch nur parodierend nähert. Daraus angelegt folgt Victor der realen Kontinuität - dargestellte Zeit entspricht zudem in etwa der darzustellenden Zeit -, räumlich hält das Stück sich an die abendliche Logik: Salon, Speisezimmer, Schlafgemach.
Raum und Zeit in ihrer beklemmenden Geschlossenheit unterstreichen die Realität der Szenerie, in der sich eine surreale Handlung abspielt - ohne kausalen Zusammenhang, sondern in demonstrative Szenen und Situationen gegliedert, die einem gleichbleibenden Muster gehorchen. Zunächst wird oberflächlich über die Trivialitäten geplaudert, dann entgleitet die Konversation und endet im Chaos, in absoluter Kommunikationslosigkeit. Die Grenze zwischen Wirklichkeit der Szenerie und Wahnsinn der Szene verschwimmt. Das ist ja das Drama.
Die Inszenierung: Wenn auch der Autor Roger Vitrac in seinem Stück keine Orientierungshilfe zwischen Realität, irrealem Dasein und surrealem Ansatz bietet, so versäumt es auch Frank Hoffmann, dem Zuschauer einen roten Hilfsfaden zu bieten, an dem er sich durch den Kindergeburtstag feiern kann. Den Verlauf zwischen Kommunikationstrivialität und Kommunikationschaos sieht Hoffmann als Kontinuum, als beinahe sich ständig wechselndes Perpetuum Mobile, keine Überblendung zwischen den Szenen, kein Textbild wie zu Stummfilmzeiten, die Hoffmann zitiert.
Auch das Bonner Ensemble zeigt sich wenig in Feierlaune und hangelt sich lust-, wenn auch nicht lautlos durch den Abend. Die Schauspieler sagen tiefenlos ihre Sätze auf, die Mimik der Erwachsenenrollen äußerst sparsam. Einziger Lichtblick: Eben das Geburtstagsessen in zappelnder und schleifender Stummfilmmanier. Hoffmann weiß nicht, für welche Dimension Vitracs er sich entscheiden soll, surreal, absurd oder boulevardesk. So verkommt die Bonner Inszenierung zu einem Gehampel zwischen allen Stühlen, oder Sesseln und Sofas, mit denen die ersten Reihen der Schauspielhalle im Bonner Stadtteil Beuel bestuhlt sind. Im gemütlichsten Sessel, so die Souffleuse, habe der Chef des Theaters die Hauptprobe von Hoffmanns Victor verschlafen. Das ist ein Drama.
Das Ensemble: Der Hauptdarsteller Rainer Kühn hat wenig von dem Victor, wie ihn Vitrac wohl sah, wenn dieser seinen Titelhelden als Mythos beschrieb: "Der Mythos von der frühreifen Jugend. Das verzerrte Versprechen des genialen Kindes", das aufgrund seiner Genialität frühzeitig sterbe. Kühn spielt Victor nicht genial, sondern eher verzogen, beleidigt denn diabolisch, ohne Händereiben, dafür mit Händeklatschen. Schlimmer noch "die Sphinx des Ruhmes und der Schande - aus der Perspektive der kleinen Leute gesehen": Ida Totemar. Sie tritt in Bonn als abgehalfterte Transe auf und hat wenig von einer Dea ex machina; da hilft auch die Erklärung ihrer Rolle keinen Deut weiter. Dramenhaft, nicht damenhaft.
Seit dem Käthchen von Heilbronn in der Spielzeit 1991/92 ist Frank Hoffmann regelmäßiger Gastregisseur am Bonner Schauspiel, wenn auch seit seinem Highlight The Black Rider eher mäßig: My fair Lady in den Sand gesetzt, bei Flieg', Oberst, Flieg' verflogen und nun auch an Vitrac gescheitert. Nach dem angekündigten Weggang des Intendanten des Bonner Schauspiels Manfred Beilharz, für den Hoffmann schon in Kassel gearbeitet hat, werden auch die Inszenierungen Hoffmanns wohl gezählt sein. Das ist kein Drama.
Schauspiel Bonn: Victor oder Die Kinder an die Macht, in der Schauspiel-Halle Beuel, Siegburger Straße, am 11., 14., 17., 20., 21., 24., 28. und 29. November (weitere Termine im Dezember), jeweils um 19:30 Uhr, Karten von 13,75 bis 39,60 DM.