"Oh Gott, war ich geil!" erinnert sich die Lehrerin voller Wollust an jenen Tag, an dem sie mit einem Minderjährigen in ein schäbiges Hotel ging, in der Absicht, sich ihm ganz und gar hinzugeben. Doch der Junge bekam Angst, die Lust blieb unerfüllt. Dabei weiß die alleinstehende Frau in den Wechseljahren, dass das mit der Partnersuche - und sei es auch nur für Sexeskapaden - sicher nicht einfacher wird.
Nicole Haase spielt die energische, doch frustrierte Frau mit genauso vielen Zwischentönen und Nuancen, wie sie ein paar Szenen später in die Haut der Betty Lou Bisher, verheiratete Fisk, steigt. Das kurzsichtige Mauerblümchen, erzogen von einer methodistischen Großmutter, hatte sich während seines Prozesses in einen Frauenmörder verliebt und ihn im Knast geheiratet; nun ist sie glücklich, denn sie hofft auf ein Wunder. Ihre Großmutter lehrte sie nämlich, dass das Vertrauen in Jesus sich immer bezahlt macht. Vielleicht wird ja ihr Monroe trotz der 320-jährigen Haftstrafe vorzeitig entlassen werden...
"Wenn man tot ist, hat man's leichter", weiß die durchgeknallte Katholikin (Christine Reinhold) im Irrenhaus, die sich nichts sehnlicher wünscht, als "lieber Gott, schick uns die Bombe!" Es gibt kein Zusammenleben mehr, insbesondere nicht zwischen Mann und Frau, bei Joyce Carol Oates, der Autorin der Monolog-Collage Nackt steh ich vor euch, die derzeit im Kasemattentheater aufgeführt wird. Oates, 1938 im Staat New York geboren, gilt als eine der wichtigsten lebenden amerikanischen Schriftsteller, immer wieder fällt ihr Name im Vorfeld der Nobelpreisverleihung. Doch hat sie diesen Ruhm ihren zahlreichen Romanen zu verdanken, weniger bekannt jedoch ist ihr Theater, besonders in Europa. Regisseur Dieter Peust ist es zu verdanken, dass zum ersten Mal eines ihrer Werke in Luxemburg aufgeführt wird. Wundern mag es kaum, da es auch Peust war, der Sascha Ley 1998 den Durchbruch sicherte, als er sie in Christine Brückners Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen inszenierte. Damals hießen die Frauen Gudrun Ensslin, Eva Braun oder Megara, der feministische Grundton beider Stücke allerdings ist ohne Zweifel miteinander zu vergleichen.
Oates' Frauen leben in Amerika und zerschellen an dessem großen Traum, gehen unter im kapitalistischen System, in dem nur die Stärkeren überleben. Dorothy Medina - "Tante Dotty" für uns - zum Beispiel, lächerliche Oma in Leggins, ist wie ein Schwamm, übernimmt Sprüche von ihrem Sohn - "Alle Feministinnen sind hässliche Lesben" - oder von ihrem Boss, wie die grässliche gute Laune am Telefon (Christine Reinhold erreicht in diesem Monolog Höchstform). Doch in Wirklichkeit kann das kleinste Lüftchen ihren Schutzpanzer aus Oberflächlichkeiten sprengen, und ihre ganze Einsamkeit scheint hindurch.
Doch sogar sich anbahnende oder existierende Partnerschaften sind unmöglich bei Joyce Carol Oates. Eine Schwangere (Nicole Haase) wird von der vorwurfsvollen Stimme ihres Babys gequält, weil sie sich für das Kind und folglich gegen den Mann und Vater entschieden hat. Engelszunge, die zarte und zärtliche Hure (etwas unsichere Nicole Max) wird von einem Freier zu Tode geschlagen und verzeiht den Männern doch. Sogar die "coole Braut", die Nicole Max in der ersten Nummer spielt, hat zwar guten Sex, wird jedoch am Morgen von Ängsten geplagt, weil sie ein Blutpünktchen in ihrem Mundwinkel entdeckt: I stand before you naked wurde 1991 veröffentlicht, als Aids schon der Liebe die Unschuld genommen hatte.
Joyce Carol Oates' Sprache ist direkt, sehr realistisch, ihre Figuren lebendig und glaubhaft, egal ob in Amerika oder Europa, sie sind die - ernüchterten - Frauen von heute. Schade deshalb, dass Dieter Peust die Figuren in einem plakativ theatralischen Bühnenbild auftreten lässt (Laufsteg, roter Vorhang . . .). Überhaupt hat die ganze Inszenierung, so eindringlich sie in ihrer psychischen Beobachtung und so gelungen sie auch in ihrer schauspielerischen Leistung ist, ein kleines Problem mit der Ästhetik: Alles wirkt ein bisschen staubig, besonders die Kostüme (was kein Problem der Kosten ist!). Und der Schluss im Trio, frontal zum Publikum, ist einfach zu pathetisch: "Wir wollen alle geliebt werden!", deklamieren die Frauen im Chor.
Am Anfang des Stückes sang Marilyn Monroe "When I fall in love" - eine diskrete Anspielung an Joyce Carol Oates' Blonde (1999 erschienen), eine Biografie von Norma Jean Baker, die, wie Oates' fiktive Figuren, am amerikanischen Traum zerbrach.
Nackt steh ich vor euch von Joyce Carol Oates, in einer Übersetzung von Alissa Walser; Inszenierung: Dieter Peust; mit: Nicole Haase, Nicole Max und Christine Reinhold; Bühne und Licht: Patrick Colling und Alex Thill; eine Produktion des Kasemattentheater; weitere Vorstellungen am 27., 30. und 31. Oktober sowie am 2., 5., 6. und 8. November jeweils um 20 Uhr im Saal Tun Deutsch des Kasemattentheaters, 14, rue du puits in Luxemburg-Bonneweg. Telefon für Kartenvorbestellungen: 291 281. am 29. Oktober und am 7. November um 20 Uhr liest Nicole Haase aus Werken von Agatha Christie.