Kommentar

Farbe bekennen

d'Lëtzebuerger Land vom 16.11.2018

Es ist ein Sieg, der sich schon bald als Pyrrhussieg entpuppen könnte. Am Mittwochabend, nach mehreren Stunden kontroverser Debatte, stimmte das britische Kabinett in London für den Brexit-Deal, den Vertreter Großbritanniens mit Brüssel ausgehandelt haben. Damit wurde eine wichtige Hürde zum EU-Austritt zwar genommen, aber aus dem Schneider ist Premierministerin Theresa May damit noch lange nicht. Denn schon seit Monaten zeichnet sich ab, dass das 585 Seiten starke Vertragswerk bei der Abstimmung im Unterhaus scheitern könnte – und zwar an der Gegnerschaft in Mays eigenen Parteireihen, bei den Tories.

Vor allem die Befürworter eines harten Brexit, der ehemalige Außenminister Boris Johnson, die einflussreichen Konservativen David Davis und Jacob Rees-Mogg mobilisieren seit Wochen gegen die Premierministerin und den Entwurf, indem sie ihr abwechselnd Verrat und den Ausverkauf britischer Interessen vorwerfen. Der Entwurf sieht, kurz gefasst, vor, dass Großbritannien auch nach der Übergangsperiode Ende 2020 vorläufig in der Zollunion bleiben soll und für Nordirland zudem zusätzliche Regeln des EU-Binnenmarktes gelten sollen. Das bedeutet, dass das Königreich in absehbarer Zeit keine eigene Handelspolitik betreiben können wird, sondern ähnlich wie Norwegen weiterhin EU-Regeln befolgen muss, ohne in Brüssel ein Mitspracherecht zu haben.

Insbesondere die Vertreter der nordirischen DUP wettern seit Wochen vehement gegen diesen Teil der Vereinbarung: Den Backstop, also den Notfallplan, mit dem geregelt werden soll, dass Nordirland sich in Zukunft enger an EU-Regeln halten soll als der Rest des Königreichs, will die probritische unionistische Partei partout nicht. Brüssel aber will darauf nicht verzichten. Und dass ausgerechnet Abgeordnete der Labour-Partei ausscheren könnten und die nötige Zustimmung geben, um einen ungeordneten Austritt zu vermeiden, ist unwahrscheinlich, schließlich hat die Parteiführung um Jeremy Corbyn bereits angekündigt, gegen den Deal stimmen zu wollen. Beobachter auf der Insel befürchten daher, ein bereits beantragtes Misstrauensvotum würde May verlieren. Dass die Gegner die dafür nötigen 48 Stimmen zusammenbekommen, gilt als wahrscheinlich.

Die Gretchenfrage aber lautet dann: Was ist die Alternative? Darauf haben die Brexit-Hardliner trotz allem Gezeter und aller starken Worte bis heute keine Antwort geliefert. Dass Brüssel noch einmal drauflegt und London in einer weiteren Verhandlungsrunde bessere Konditionen anbietet, gilt unter EU-Diplomaten als so gut wie ausgeschlossen. Einmal wurde bereits nach Kritik nachverhandelt.

EU-Brexit-Chefunterhändler Michel Barniers lobende Worte für den jetzt gefundenen Kompromiss und die optimistische Einschätzung des EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker via Twitter, er sehe genügend Fortschritte, um die Verhandlungen nun zu beenden, sind deshalb vor allem taktischer Natur: Sie versuchen nach Kräften, Theresa May gegen die Gegner im Unterhaus und in den eigenen Reihen zu unterstützen. Denn ein harter Brexit ist nicht nur gefährlich für die Wirtschaft auf der Insel, sondern auch für die Firmen auf dem europäischen Kontinent, die mit Lieferketten und Finanzgeschäften eng mit Großbritannien verbunden sind.

Insofern ist also noch lange kein Ende in Sicht im Brexit-Dauerstreit und in der öffentlichen britischen Selbstzerfleischung – nur schlägt die bittere Stunde der Wahrheit jetzt zunehmend auch für die Hardliner. Das Versprechen, die volle Kontrolle von Brüssel zurückzuerlangen – eine Lüge; ebenso die vollmundige Ankündigung, nach einem raschen Austritt andere bessere Handelsabkommen abzuschließen. Alles leeres Geschwätz.

Dass May sich aus der Sackgasse mit vorzeitigen Neuwahlen befreit, ist eher unwahrscheinlich. Zu groß ist die Gefahr, dass die Tories und sie selbst weiter massiv an Zustimmung verlieren könnten. Genau diesen Befreiungsschlag hatte May ja bereits im Juni vergangenen Jahres versucht – und sie war damit kläglich gescheitert und musste eine Koalition mit der DUP eingehen.

Bleibt also eigentlich nur noch ein Weg aus dem Schlamassel: Theresa May könnte ein zweites Referendum anberaumen und die Britinnen und Briten selbst über die Zukunft wählen lassen. Das hatte sie in der Vergangenheit zwar ausgeschlossen. Aber was heißt das schon? Schließlich hatte die Premierministerin auch immer behauptet, statt mit einem schlechten Deal lieber ganz ohne Deal aus Brüssel zurückzukehren. Nun, da sie zunehmend mit dem Rücken zur Wand steht, könnte sie Rückendeckung ausgerechnet bei denen suchen, deren Meinung weder sie noch ihre Partei besonders interessiert hat: der Bevölkerung. Da die Britinnen und Briten die Folgen eines wie auch immer gearteten Brexit ausbaden müssen, ist das nur folgerichtig und fair.

Ines Kurschat
© 2023 d’Lëtzebuerger Land