Staatsminister Xavier Bettel (DP) und seine Mitarbeiter waren sehr stolz als EU-Ratspräsident Donald Tusk Anfang März nach Luxemburg kam, um den Entwurf der Leitlinien zum Rahmen der künftigen Beziehungen zum Vereinigten Königreich, kurz draft guidelines genannt, vorzustellen. Zeigte das in ihren Augen doch, dass Bettel in der EU am Tisch der Großen mitrede und nicht am Katzentisch Platz nehmen müsse. Die Finanzbranche im In- und Ausland wartete an dem Tag mit Spannung auf den Text. Sie interessierte besonders, ob die Grundlage für das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Großbritannien, das formal erst nach dessen EU-Austritt verhandelt werden kann, in irgendeiner Form erwähnen würde, wie der Handel mit Finanzdienstleistungen gehandhabt würde, wenn die britischen Finanzmarktakteure nach dem Austritt ihre „Pässe“ verlieren, die im Binnenmarkt den freien Handel mit ihren Produkten ermöglichen. Sie wurden enttäuscht; von Finanzdienstleistungen war im Entwurf keine Rede.
Wie der Zugang zu ihren jeweiligen Märkten der britischen und der europäischen Finanzbranche nach dem Brexit geregelt wird, ist eine von vielen wichtigen offenen Fragen in den Brexit-Verhandlungen. Denn aller Freude in Dublin, Paris, Frankfurt und Luxemburg darüber zum Trotz, dass immer mehr Banken, Asset Manager und Versicherungsgesellschaften umziehen, ist und bleibt London eine der wichtigsten Finanzmetropolen weltweit. Während den Briten daran gelegen ist, dass der für sie so wichtige Wirtschaftssektor weiterhin Zugang zum EU-Binnenmarkt behält, bleiben die Standorte in der EU auch nach dem Austritt Großbritanniens abhängig von ihren „Zulieferern“ in London. Doch Freihandelsabkommen, wie dasjenige, das die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Großbritannien und der EU nach der Übergangsfrist regeln soll, decken in der Regel die Finanzdienstleistungen nicht ab.
Bei ihrem Treffen im März nahmen die EU-Außenminister dann eine Reihe von Anhängen zu den draft guidelines an. Darunter den Anhang IV, der in zwei Abschnitten aussagte, betreffend Finanzdienstleistungen sei das Ziel ein überholter und verbesserter Gleichwertigkeitsmechanismus, der angemessenen Zugang zu Finanzdienstleistungsmärkten erlaube, während er gleichzeitig die Finanzstabilität, die Integrität des Binnenmarktes und die autonome Entscheidungsfindung der EU aufrecht erhalte. Innerhalb eines solchen Gleichwertigkeitsmechnismus, auf Luxemburgisch Equivalenzen genannt, würden die Entscheidungen weiterhin unilateral von der EU definiert und umgesetzt.
Außenminister Jean Asselborn (LSAP) erklärte daraufhin in der Presse, der Anhang sei eine Initiative der Luxemburger und der französischen Delegation gewesen. Dass ausgerechnet die Franzosen einen konstruktiven Vorschlag mit ausgearbeitet haben sollten, die als Erbfeind unter großem Aufwand seit dem Referendum versuchen, britische Akteure nach Paris zu locken, konnte überraschen. Was unter Equivalenzen für Finanzdienstleistungen zu verstehen sei, blieb dem großen Publikum schleierhaft, das dieses Konzept höchstens durch die gegenseitige Anerkennung von Hochschuldiplomen und Berufsqualifikationen kennt.
Dass die EU-Staats- und Regierungschefs bei ihrem März-Gipfel zwei Tage später die draft guidelines ohne die besagten Anhänge annahmen, machte es Beobachtern nicht unbedingt leichter zu verstehen, was es mit den Gleichwertigkeiten auf sich hat. Hieß das etwa, der französische-luxemburgische Vorstoß sei von den Staatschefs abgelehnt worden? Sprecher für das Staatsministerium wiegelten ab, dies sei nicht von Bedeutung. Wichtig sei, dass die Außenminister sich bei ihrem Ratstreffen darauf geeinigt hätten, den ihr Rat biete eine solide legale und prozedurale Grundlage. Dabei resümiert sich in diesem Detail die ganze Problematik der Verhandlungen um den Rahmen für den Austausch von Finanzdienstleistungen nach dem Brexit.
Der Wortlaut des kurzen Anhangs, dem die Außenminister schließlich zustimmten, war das Ergebnis langer Verhandlungen, in denen bereits ein halbes Dutzend Vorschläge durchgefallen waren. Die Anhänge von den Staats- und Regierungschefs als Teil der guidelines absegnen zu lassen, kam für manche Delegation sowie für den Brexit-Verhandlungsführer Michel Barnier nicht in Frage. Unter keinen Umständen sollte der Eindruck entstehen, dies solle Teil der Verhandlungen über das Freihandelsabkommen werden, etwas worüber die Briten diskutieren könnten und das sie in der Folge dazu berechtige, mitzureden, wenn neue Regulierungen für die Finanzmärkte in der EU ausgearbeitet werden.
Im Januar sagte Barnier in einer Rede vor Fachpublikum in Brüssel, nach der Krise habe die EU ein einheitliches und präzises Regelwerk für die Finanzbranche auf die Beine gestellt, um die Stabilität abzusichern, sowie den Anlegerschutz und gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle Akteure zu schaffen. „A country leaving this very precise framework and the accompanying supervision gains the ability to diverge from it but by the same token loses the benefits of the Internal Market”, so Barnier. „Its financial service providers can no longer enjoy the benefits of a passport to the Single Market nor those of a system of generalised equivalence of standards. This is not a question of punishment or revenge; we simply want to remain in charge of our own rules and the way in which they are applied. As it seeks to regain its decision-making autonomy, the United Kingdom must respect ours.“
Auch jetzt schon ist die Gleichwertigkeit für Drittstaaten in bestimmten Teilen der EU-Banken und -Finanzmarktregulierung vorgesehen, in anderen nicht. Meist geht es darum, eine Doppelung von Regeln zu verhindern. Dort wo es sie gibt, entscheidet die EU-Kommission, ob die Regeln eines Drittstaates denen der EU ebenbürtig sind und Dienstleistungen zugelassen werden, ohne dass die Anbieter eine Niederlassung in der EU haben müssen. Wie dann die Zulassung verläuft, von welchen Stellen – beispielsweise von der Esma, Eba oder nationalen Behörden – sie angenommen wird, ob es ex-post Kontrollen gibt und wer sie durchführt, dafür gibt es innerhalb der verschiedenen Sektorregulierungen drei bis vier unterschiedliche Modelle.
Ob die Möglichkeit einer Gleichwertigkeit gegeben ist oder nicht, hängt grob vereinfacht davon ab, ob die Dienstleistung für private Verbraucher gedacht ist oder für professionelle Kunden, wobei Erstere besonders geschützt werden. Ein Kredit für einen Endverbraucher kann also beispielsweise nur von einer Bank angeboten werden, die eine Niederlassung in der EU hat und dort reguliert ist. Grenzüberschreitend darf die Bank nur Verbraucher bedienen, wenn sie den entsprechenden EU-Binnenmarkt-Pass hat. Für Luxemburg ist vielleicht besonders wichtig, dass es für die auf Kleinanleger zugeschnittenen Investmentfonds, auf die sich die heimische Finanzbranche in den vergangenen 30 Jahren spezialisiert hat und die sie nicht nur EU-, sondern weltweit verkauft, ebenfalls keine Gleichwertigkeit gibt. Denn der Marktanteil der in Luxemburg niedergelassenen britischen Fondsanbieter belief sich vergangenen Februar auf fast 18 Prozent. Sie bilden die zweitstärkste Gruppe hinter den Amerikanern und verwalteten 738 Milliarden Euro. Eine Menge Geld.
Der Rechtsrahmen für die Anbieter von alternativen Investmentfonds, beispielsweise Immobilienfonds, Hedgefonds und andere Fonds, die sich an eine spezialisierte Kundschaft wenden und eine Branche, die Luxemburg versucht hat, in den vergangenen Jahren auszubauen, sieht die Möglichkeit von Gleichwertigkeiten vor. Ebenso wie die Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente vorsieht, dass professionelle Kunden, darunter Investmentfonds, auf die Dienstleistungen von Anbietern aus Drittstaaten, die als gleichwertig reguliert anerkannt sind, zurückgreifen können. Das bleibt bisher aber eine theoretische Möglichkeit, denn die EU-Kommission hat diese Gleichwertigkeits-Regimes bisher nicht „aktiviert“.
Dass im Anhang von „verbesserten Gleichwertigkeitsmechanismen“ die Rede ging, hat dies- und jenseits des Ärmelkanals unterschiedliche Reaktionen ausgelöst. Anfang März, bevor die Außenminister sich auf Anhang IV einigten und bevor Xavier Bettel mit seinen Beratern in 10 Downing Street zu Besuch war, meinte der britische Finanzminister in einer Rede bei HSBC über die bestehenden Gleichwertigkeitsmechanismen: „But that regime would be wholly inadequate for the scale and complexity of UK-EU financial services trade. It was never meant to carry such a load. The EU regime is unilateral and access can be withdrawn with little to no notice. Clearly not a platform on which to base a multi-trillion pound trade relationship.“ Aber vergangene Woche berichtete Le Monde von einer Bankierskonferenz in London, während der Bankchefs neue Hoffnung schöpften und in „verbessert“ hineinlasen, es könnte ein gemeinsames Gremium geben, in dem Briten und Europäer zusammen entscheiden würden, was gleichwertig sei und was nicht. Genau diesen Traum will Barnier verhindern, weil das den Briten indirekt ein Mitspracherecht über die EU-Regulierung einräumen würde.
Doch wenn die EU tatsächlich den Zugang der Briten über das Gleichwertigkeitssystem regeln und gleichzeitig das Heft nicht aus der Hand geben will, kann für sie eine „Verbesserung“ eigentlich nur darauf hinauslaufen, dass die Gleichwertigkeit sozusagen flächendeckend in allen Bereichen der Finanzbranche eingeführt wird, bevor der Brexit vollzogen und die darauffolgende Übergangsperiode vorbei ist. Das würde heißen, alle bestehenden Richtlinien und Regulierungen entsprechend anzupassen – ein ambitioniertes Vorhaben angesichts des engen Zeitplans. In einzelnen Bereichen haben die Arbeiten bereits im Rahmen anderer Reformen begonnen. Beispielsweise bei der geplanten Reform der Europäischen Marktinfrastrukturen (Emir), der Reform für Investmentfirmen und der Europäischen Aufsichtsreform, die Änderungen auf der Ebene der Bankenaufsicht Eba und der Finanzmarktaufsicht Esma vorsieht. Was nicht heißen soll, dass es im Rahmen dieser Reformen ein einheitliches, richtlinienübergreifendes Konzept für den Gleichwertigkeitsmechanismus geben würde. Viele der Vorschläge laufen darauf hinaus, der Esma weitere Kompetenzen für Registrierung und Kontrolle von Dienstleistern aus Drittstaaten zu übertragen.
Dass diese Reformen nicht ohne Risiken für Luxemburg sind, zeigt sich daran, dass die Kommission in ihren Vorschlägen zur Esma-Reform vorgesehen hatte, Kompetenzen zur Fonds-Zulassung von den nationalen Behörden zur Esma zu verlagern (d’Land, 29.09.2017). Doch die Luxemburger Finanzbranche und daher die Luxemburger Regierung wollen nach dem Brexit auf keinen Fall mangels Regelung einfach von der Londoner Finanzbranche abgeschnitten werden und riskieren, dass die business continuity in Frage gestellt wird. Aber einen Wettbewerbsvorteil für die Briten zulassen, ihnen Zugang zum Binnenmarkt gewähren, während die Dienstleister nur britisches Recht anwenden und sich der Gerichtsbarkeit des Europäischen Gerichtshofes entziehen, kommt ebenfalls nicht in Frage. In Anbetracht der verhärteten Verhandlungspositionen zwischen der EU und Großbritannien scheint die Gleichwertigkeit der letzte Strohhalm zu sein.