Liberty House Group übernimmt Arcelor-Mittal Düdelingen. Die Gewerkschaften sind verunsichert über den unbekannten Bieter

Who the heck is Sanjeev Gupta?

d'Lëtzebuerger Land vom 09.11.2018

Die Katze aus dem Sack Nachdem die EU-Kommission Anfang Mai der Übernahme von Ilva durch Arcelor-Mittal zugestimmt hatte, wurde Ende vergangener Woche endlich bekannt, wer die Arcelor-Mittal-Werke in Lüttich und Düdelingen kauft, die der Konzern im Gegenzug abstoßen muss: Liberty House Group. Der gleiche Konzern übernimmt auch die Werke in der Tschechischen Republik, Rumänien, Mazedonien und Italien, deren Verkauf die EU-Kommission ebenfalls angeordnet hatte, um den Wettbewerb auf dem europäi­schen Stahlmarkt zu bewahren.

Liberty House? Nie gehört! Der christliche Gewerkschaftsbund bedauerte alsbald in einer Stellungnahme, dass das Düdelinger Verzinkungswerk in den Besitz eines Finanzfonds übergehen sollte, wo doch auch der deutsche Salzgitter-Konzern, ein wahrer Industriekonzern, ein Angebot abgegeben hatte. „Die sind plötzlich aufgetaucht und in Europa völlig unbekannt“, meinte LCGB-Mitarbeiter Robert Fornieri am Dienstag nach einem ersten Treffen von Vertretern des Personals und Liberty Group. Auch der Präsident der Delegation, OGBL-Mitglied Paul Lionti, erklärtee sich „überrascht“ bis „erschreckt“, über den plötzlichen Einstieg in den Bieterprozess von und den Zuschlag an Liberty House.

Flash in the pan Liberty House Group gehört zum Mischkonzern GFG Alliance (Gupta Family Group), an dessen Spitze das unternehmerische Wunderkind Sanjeev Gupta steht. Gupta, 1971 geboren, stammt aus dem indischen Bundesstaat Punjab. Punjabis wird nicht nur in Indien ein ausgeprägter Geschäftssinn nachgesagt. Vor zwei Jahren machten punjabische Sihks globale Schlagzeilen als sie die Produktion von Büffel-Mozzarella im ländlichen Italien übernahmen. Vater Gupta, im Punjab in der Stahlproduktion tätig, schickte seinen Sohn nach Cambridge zur Uni. Die Firma Liberty House Group gründete Sanjeev Gupta 1992 noch als Student und begann mit Rohstoffen zu handeln. Als er 2013 beschloss, vom Händler zum Produzenten zu werden und MIR Steel Newport kaufte, ein Werk, das jeden Tag eine Million Pfund Verlust machte, meinten auch walisische Stahlarbeiter skeptisch: „I’d never heard of the fellow. I thought he was a flash in the pan.“ 2016 erreichte die Krise im europäischen Stahlsektor unter dem Druck chinesischer Dumpingimporte einen Höhepunkt und Tata Steel kündigte an, sich aus Großbritannien zurückzuziehen. Sanjeev Gupta gibt ein Angebot ab, unter anderem für die emblematischen Werke in Port Talbot, einst das größte Stahlwerk Europas. Daraufhin wunderten sich britische Journalisten genauso wie die Luxemburger Gewerkschaften: „Suddenly out of nowhere this mysterious bidder arrives.“ Oder: „Many struggle to understand how he can make a viable business if Tata can’t.“

Man of steel Aus der Übernahme wurde nichts, doch die BBC widmete ihm daraufhin eine 50-minütige Dokumentation Man of steel. Darin erklären die Mitarbeiter von Newport, mittlerweile Liberty Newport Steel, von ihren Erfahrungen mit Gupta. Sechs Monate, während der Modernisierung des Werks, wollte er ihnen den halben Lohn zahlen, damit sie zu Hause blieben, mit dem Versprechen alle Mitarbeiter wieder zu beschäftigen, sobald die Produktion erneut hochfahre. In der Zwischenzeit konnten sie andere Jobs annehmen. Doch aus sechs Monaten wurden schließlich zwei Jahre. Da glaubten auch die walisischen Arbeiter nicht mehr daran, irgendwann ins Werk zurückzukehren. Gupta zahlte weiter die halben Löhne. Die Neueröffnung feierte er mit einem Festessen für alle Mitarbeier ausgerechnet an dem Tag, als der konservative Premierminister David Cameron, angesichts des angedrohten Rückzugs von Tata, einen Krisengipfel für die Stahlbranche einberief und sogar Nationalisierungen nicht mehr völlig ausschloss. „Quite ironic“, sagt Gupta trocken in der Dokumentation, die ihn während der schnellen Expansionsphase begleitet, in der er Werke in Schottland und schließlich in Australien kaufte. Im Rohstoffland Australien ist Liberty House mittlerweile der führende Stahlhersteller. Dem Rohstoffgiganten Rio Tinto hat er Aluminiumwerke in Großbritannien abgekauft und ist zum zweitgrößten Metallproduzenten auf den britischen Inseln avanciert. Vergangenen Mai rettete er den französischen Alufelgenhersteller AR Industries vor dem Konkurs. Auch mit Arcelor-Mittal hat Gupta schon Geschäfte gemacht. Ende 2017 kaufte er die seit zwei Jahren stillstehenden Stahlwerke in Georgetown. South Carolina, ab und stellte über 100 von Arcelor-Mittal entlassene Stahlarbeiter wieder ein. So dass er nicht nur in Großbritannien und Australien, sondern auch in den USA als „Retter der Stahlbranche“ gefeiert wurde.

Den Vertretern von OGBL und LCGB erklärten die Mitarbeiter von Liberty House Group am Dienstag, alle bisherigen Übernahmen ohne Sozialpläne bewerkstelligt zu haben und keine der gemachten Akquisitionen verkauft zu haben. In der BBC-Dokumentation fragt ihn der Journalist, warum er keine Leute entlässt, während andere Konzerne die Belegschaft restrukturieren. Gupta antwortet dem Journalisten: „Our DNA is not to go in and lay off thousands of people. […] I never laid off anyone in my life. Maybe I am a bit of a coward, but I don’t like to get involved in something which requires a big transformation of the workforce. […] It would be tough for me, really, to have a situation where I would have responsibility for putting a great deal of people out of work and their families in distress.” Um einen guten Draht nach Düdelingen herzustellen, ließ Liberty Group die Pressemitteilung zur Übernahme integral auf Luxemburgisch veröffentlichen.

Mittal reloaded? Gupta habe mehr Wort gehalten als sonstwer, sagt einer seiner Stahlarbeiter aus Wales im Film. Vielleicht liege es daran, dass er ein Familienunternehmen leite und keine Aktionäre im Genick habe, die schnelle Rendite und Dividenden verlangten. Robert Fornieri vom LCGB bleibt indes skeptisch, was die Herkunft der Gelder angeht, mit denen Guptas Unternehmen expandiert hat. Er fühlt sich an Mittal Steel erinnert, der vor der Arcelor-Übernahme den Kauf maroder Werke mit Schulden finanzierte, deren Abbau bis heute oberstes Ziel des Konzerns ist.

Und er ist nicht der einzige. Im Sommer standen Liberty-Anleihen im Zentrum eines Finanzskandals. Tim Haywood, ein Fondsmanager von GAM Investments, der Milliardenvermögen verwaltete, wurde im Juli plötzlich entlassen, weil er die internen Due-Dilligence-Regeln nicht eingehalten hatte. Er machte im Alleingang Investitionen, ohne zweite Signatur einzuholen und verstieß gegen die Unternehmensrichtlinie für Geschenke und Unterhaltung. Die Nachrichtenagentur Bloomberg berichtete, bei den fraglichen Investitionen sei es um unbesicherte Anleihen der Liberty-Unternehmensgruppe gegangen, die er unter anderem für Luxemburger Publikumsfonds gekauft hatte. Nach Haywoods Entlassung flohen die Investoren – obwohl die Investitionen GAM zufolge der Investitionspolitik der Fonds nicht widersprachen – und der Fondsverwalter musste Liquidationspläne für seine Absolute Return Bond Fonds bekannt geben. Die drei Luxemburger Fonds GAM Absolute Return Bond, GAM Absolute Bond Defender und GAM Absolute Return Bond Plus mit milliardenschweren Analagevermögen hatten den Halbjahresberichten zufolge Ende Dezember 2017 Anleihen der Liberty-Unternehmensgruppe für insgesamt 307 Millionen Euro im Portfolio. Den direkten Zusammenhang zwischen der Entlassung von Haywood und den Liberty-Anleihen bestätigten, weder Liberty noch GAM gegenüber Bloomberg.

Doch inzwischen ist die Finanzierung der Unternehmensgruppe immer öfter Gegenstand der Finanzberichterstattung. Das liegt einerseits daran, dass Guptas Unternehmen nicht an der Börse notiert ist und deshalb keinen Veröffentlichungspflichten unterliegt. So gibt die Gruppe auf ihrer Webseite Auskunft über die Einkommensunterschiede zwischen den Geschlechtern, erklärt ihre Steuerstrategie, liefert aber keine Finanzdaten. Andererseits hat der Unternehmenschef in der Zwischenzeit über Pläne für einen Börsengang gesprochen; er könnte also demnächst Aktionäre im Genick haben, die Rendite fordern. Hatte er ursprünglich dieses Jahr einen Börsengang seiner Stahlsparte in New York erwogen, erklärte Sanjeev Gupta laut Reuters Anfang Oktober anlässlich einer Konferenz in London neue Pläne. Möglicherweise würde er in einem ersten Schritt die australischen Produktionsanlagen in Australien an die Börse bringen. Mit dem Börsengang soll Geld für Investitionen gesammelt werden. Dem Bericht zufolge kündigte Gupta in den vergangenen drei Jahren an, insgesamt 3,5 Milliarden Dollar in seine Produktionsanlagen in Großbritannien, Australien und Frankreich zu investieren. „We don’t have much debt because we haven’t bought or built anything expensive yet. We bought assets for good value and (mostly) without debt. We were able to turn them on their own steam“, wurde Gupta zitiert. Seine Gruppe mit 14 000 Mitarbeitern und 15 Milliarden Dollar Umsatz, habe die Kerngewinne von 165 Millionen Dollar 2016 auf 500 Millionen Dollar 2017 steigern können.

Was kommt nach Usibor? Nach ihrem ersten Treffen mit Liberty-Vertretern am Dienstag sorgen sich die Luxemburger Gewerkschaften ganz konkret um drei Punkte. Hauptprodukt der Verzinkungsanlagen ist das Autoblech Usibor. Das Halbzeug, also die unverzinkten Blechrollen, bezieht Düdelingen aus Arcelor-Mittal-Walzwerken im französischen Florange, die in der Arcelor-Mittal-Gruppe bleiben, genauso wie das Patent für das Herstellungsverfahren. Arcelor-Mittal baut außerdem in Florange eine brandneue Verzinkungsanlage mit größerer Kapazität (weswegen mancher Gewerkschafter den Konzern verdächtigte, Düdelingen gerne los zu sein). Die Verkaufsvereinbarungen sehen vor, dass Arcelor-Mittal Düdelingen während einer Übergangsfrist von zwei Jahren weiter mit Halbzeug beliefert und dem Werk die fertigen Bleche abnimmt. Doch was soll in Düdelingen hergestellt werden, wenn Arcelor-Mittal danach die Usibor-Bleche in Florange herstellen lässt? Am Dienstag sollen die Liberty-Manager sehr vorläufige Pläne gezeigt haben, nach denen einerseits die Produktion bis 2023 gesteigert werden soll und andererseits zwischen zehn und 15 Millionen Euro in Düdelingen und Lüttich investiert werden sollen. Doch was konkret hergestellt werden soll, dazu äußerten sie sich nicht. Da die Übernahme-Deals aber noch von der EU-Kommission genehmigt werden müssen, Liberty also derzeit noch nicht Eigentümer der Anlagen ist, zu sei es für Details noch zu früh, sahen allerdings auch die Gewerkschaftsvertreter ein.

Liberty habe einen positiven Eindruck gemacht, meinten sie nach dem Treffen, und nicht nur versprochen, weiter im Dialog mit der Belegschaft zu bleiben, sondern auch bekräftigt, diese integral übernehmen zu wollen. Allerdings kamen während des Treffens Zweifel auf, was mit „integral“ gemeint ist. Denn in Düdelingen sind 214 Mitarbeiter mit fristlosen Verträgen beschäftigt – davon gingen auch die Liberty-Vertreter in ihren Präsentationen aus. Doch daneben arbeiten dort ständig weitere 70 Mitarbeiter mit befristeten oder Zeitverträgen. Berücksichtigt man die Angestellten in der Verwaltung, die Düdelingen zuarbeiten, umfasse die Belegschaft 300 Mann Personal, also fast ein Drittel mehr.

Die Manager hätten sich am Dienstag verpflichtet, den in Luxemburg gepflegten Sozialdialog weiterzuführen, berichteten Robert Fornieri und Raymond Kapuscinski vom OGBL nach der Sitzung. „Mais on demande à voir“, so Fornieri. Egal wie sich Liberty in Zukunft verhält, wird die Übernahme nicht ohne Folgen auf den Sozialdialog in der Luxemburger Metallurgie bleiben. Denn durch sie wird der Perimeter der Werke wieder ein Stück kleiner, über den Arcelor-Mittal, Regierung und Gewerkschaften bisher in Stahl-Tripartite-Sitzungen Gesamtpakete über Investitionen und die sozialen Begleitmaßnahmen für den Personalrückbau, wie die Vorruhestandregelungen oder die Cellule de reclassement, abwägten. Wirtschaftsminister Etienne Schneider (LSAP), der das bis 2019 geltende Lux2016-Abkommen mitverhandelte, demzufolge nach Gewerkschaftsschätzung in Düdelingen noch zwischen zwei und drei Millionen Euro zu investieren bleiben, hat die Vertreter von Liberty bisher noch nicht getroffen. Man versuche zeitnah sowohl ein Treffen mit ihnen, als auch mit dem Gewerkschaften zu arrangieren, heißt es aus dem Ministerium.

Michèle Sinner
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