Was ist qualitatives Wachstum? Die Frage, meint der Direktor der Industriellen-Föderation Fedil, René Winkin, sei eigentlich sehr einfach zu beantworten. Für ihn ist qualitatives Wachstum solches, das durch Produktivitätssteigerungen entsteht, statt dass mit jedem zusätzlichen Prozent Wirtschaftsleistung ein zusätzliches Prozent aktive Bevölkerung einhergeht. Mit gleichen oder weniger Ressourcen – seien es Energie, Wasser, Land, Mitarbeiter – mehr Wirtschaftsleistung bringen, vereinfacht er. Die Fedil hat ihre Pflichtrunde bereits absolviert und vor dem Urnengang im Oktober alle Parteien getroffen. Sehr schnell, binnen Minuten, berichtet Winkin, sei dabei jeweils die Diskussion auf das Thema Wachstum geschwenkt. In den vergangenen Monaten hatte sich die Wachstumsdebatte durch die Projekte für eine Joghurtfabrik in Bettemburg und eine Steinwollefabrik in Sanem aufgeladen (siehe Seiten 2-3 und nebenstehend), die nicht nur auf lokaler Ebene auf Widerstand stoßen, sondern auch für einen offen ausgetragenen Konflikt zwischen den grünen und und sozialistischen Ministern führten. „Team Dieschbourg“ bemängelt, die Projekte seien nicht Rifkin-konform, entsprächen nicht den in der Rifkin-Studie festgelegten Zielen zur nachhaltigen Entwicklung der heimischen Wirtschaft. „Team Schneider“ hält dagegen, die Projekte seien vor Festlegung der Rifkin-Strategie eingereicht worden; der Wirtschaftsminister setzt seither im Wahlkampf als einziger voll auf wohlstandversprechendes Wachstum. Die anderen Parteien bemühen sich zu definieren, was denn qualitatives Wachstum bedeutet.
Dafür, dass Wachstum in Luxemburg gesamtwirtschaftlich betrachtet in naher Vergangenheit nach der Formel ein Prozent mehr Bruttoinlandsprodukt, ein Prozent mehr Erwerbsbevölkerung entstanden sei, hat Winkin ein Erklärung parat, die mit der Industrie nichts zu tun hat: In den vergangenen Jahren sei der Pflegebereich stark ausgebaut worden, die Kinderbetreuung ebenfalls. Neue Stellen seien vornehmlich im parastaatlichen Bereich geschaffen worden und manche staatlichen Verwaltungen hätten sich ebenfalls verstärkt. Eine notwendige Anpassung, urteilt der Fedil-Direktor, die aber makroökonomisch zum bekannten Ergebnis geführt habe.
Obwohl die Debatte um das Wachstum wegen der unangenehmen Begleiterscheinungen wie Lärm, Schwertransporte und Schadstoffemissionen vor allem auf eine Diskussion für oder wider Schwerindustrie hinausläuft, habe er keine Partei angetroffen, die „Anti-Industrie“ sei, sagt Winkin. Eher gehe es darum, welche Unternehmen man im Einzelnen für wünschenswert hält und welche nicht. Ob es möglich ist, eine solche Auswahl aufgrund von rechtlich verbindlichen Kriterien zu treffen? „Nein“, meint Winkin. Die Fedil warnt davor, einen rechtlich sehr restriktiven Rahmen zu formen, beispielsweise aufgrund des Landverbrauchs, um zu verhindern, dass sich Firmen wie Knauf, Fage oder Google, die große Grundstücke benötigen, niederlassen. „Denn“, meint Winkin, „als erstes würde an einer solche Hürde wahrscheinlich die Straßenbauverwaltung scheitern, die einen neuen Hangar braucht“. Ein rechtlich zu enger Rahmen, gibt er zu bedenken, bedürfe Ausnahmeregelungen, und viele Ausnahmeregelungen, fügt er hinzu, „sind nicht gut“.
Eine Prioritätenliste von der Regierung findet der Industriellenverband begrüßenswert, wenn sie nicht völlig ausschließe, das solche Unternehmen, die darauf nicht stehen, sich gar nicht mehr niederlassen, beziehungsweise weiterentwickeln können. Winkin plädiert für „klare, objektive“ Kriterien. Für Schadstoffemissionen heißt das für ihn: nationale Obergrenzen. Ein neues Unternehmen, dessen Produktion die Einhaltung der Obergrenzen in Gefahr bringe, müsse entweder Maßnahmen treffen, um den Ausstoß zu reduzieren oder könne nicht starten. Bei der Festlegung der Obergrenzen dürfe man allerdings die Dynamik der Entwicklung, den Trend, nicht aus den Augen verlieren. Denn durch neue Technologie und Standards, aber schlicht auch aus Kostenursachen, gingen die Schadstoffemissionen in der Industrie eigentlich zurück, gibt Winkin zu bedenken. Den gleichen Trend gebe es beim Energie- und beim Landverbrauch. Das liegt am technischen Fortschritt. Aber auch daran, dass die Industrie in den vergangenen Jahren nicht immer so gute Konjunktur hatte wie heute. Mit der Schließung des Stahlwerks in Schifflingen ist ein großer Stromverbraucher und Schadstoffemittent von der Landkarte verschwunden; durch die Schließung des Gasturbinenwerks in Esch, dem bis dahin größten nationalen Gasverbraucher, ein weiterer.
Der Grundstücksmangel bleibt für alle Unternehmen, groß oder klein, ein Problem, auch wenn die von Infrastrukturminister François Bausch (déi Gréng) für Ostern versprochenen Sektorpläne 600 neue Hektar für Gewerbegebiete vorsehen. Sind diese Flächen für die gewerbliche Nutzung vorbestimmt, bleiben sie einstweilen in privater Hand. Bis sich dort Firmen entwickeln können, gibt Winkin zu bedenken, müssen alle Genehmigungsprozeduren zur Einrichtung der Gewerbezonen absolviert und die notwendigen Infrastrukturarbeiten durchgeführt werden. Das kann dauern. Soll Luxemburg überhaupt neue Industrie fördern, wenn die Grundstücke knapp sind? „Belval, Schifflingen, Wiltz, ...“ entgegnet Winkin, die Industrie habe in den vergangenen Jahren viele Flächen freigegeben, die bereits einer anderen Nutzung zugeführt wurden oder auf denen dies bevorsteht.
„Wir müssen uns fragen, wie wir auf die Entwicklung in den nächsten 20 Jahren vorbereitet sind“, sagt der Fedil-Direktor auf den Wasserverbrauch der Industrie angesprochen, und darauf, dass konkrete Projekte drohen, zu Engpässen bei der Versorgung zu führen. Bei der Strom- und Gasversorgung sei dies in den vergangenen Jahren bereits in Angriff genommen worden. Allerdings befinde sich bei Strom und Gas die Infrastruktur in einer Hand, gibt Winkin zu bedenken, die Importe werden kaum in Frage gestellt. Ums Wasser hingegen, kümmern sich die verschiedenen Gemeindesyndikate. Wenn die Ansiedlung eines Unternehmens Infrastrukturarbeiten, einen neuen Anschluss voraussetze, müsse es entweder bei der Finanzierung helfen, warten bis der Anschluss verlegt ist „oder sich woanders niederlassen“. Dass die Ansiedlung neuer Unternehmen dazu führen könnte, dass eventuelle Engpässe eher eintreten, „das muss man zugeben“, so Winkin. Doch wenn es nicht genug Wasser für Fage gebe, könne das Wassersyndikat der Südgemeinden in den kommenden zwei Jahren auch keine 20 000 neuen Einwohner versorgen, führt der Fedil-Direktor aus – die Bevölkerung wächst laut Statec im Schnitt jährlich um 11 000 Einwohner. Immigranten kommen natürlich auch, weil die Wirtschaft wächst. Schuld daran ist laut Industriellenverband aber weniger die Industrie, als andere Branchen. „Die Beschäftigung in der Industrie ist seit Jahren stabil“, so der Direktor. Auch in guten Jahren seien immer wieder Sozialpläne durchgeführt worden. „Die Kadenz der Ankündigungen neuer Industrieprojekte im vergangenen Jahr hat wahrscheinlich dazu beigetragen, die Debatte [ums Wirtschaftswachstum und die Industrie] anzuheizen. Und auf ein Jahr betrachtet mag dies spektakulär erscheinen.“ Doch angesichts der Investitionsflaute in den Jahren davor beschwichtigt Winkin: „über mehrere Jahre betrachtet, sollte uns dies nicht erschrecken.“