Auch zum Sterben, so scheint es zumindest, begibt sich Le Professeur Fernando Rossi, der dottore, auf eine letzte Segelfahrt durch das Mittelmeer – auf den Spuren des Aeneas, des Helden der Aeneis von Vergil. Der krebskranke Professor segelt auf Kulturreise von der Türkei über Griechenland nach Italien, durch Fluten und Wellenkämme, für deren Blauton er nach der passenden Beschreibung sucht: vielleicht „bleu d’acier“, mit Hermann Brochs Der Tod des Vergil, während das Mittelmeer in der Aeneis selbst vor allem in Schattierungen auftritt. Er stirbt, bevor sie Italien erreichen, Jahre vor dem Einsetzen des Romans, der wiederum seinem Sohn Claude folgt, der sich mit seiner Herkunft, seinem Vater und dessen Werk auseinandersetzt. „Un fils cherche toujours son père“, schreibt er, doch: „Ce que j’ignorais cependant, au moment de commencer ce livre, c’est que chercher le père signifie avant tout trouver le fils“. Also begibt sich Claude nun selbst, anhand des Nachlasses seines Vaters, auf eine Suche, die ihn durchs Mittelmeer ins Reich der Literatur und der Mythologie führen wird …
In Une dernière fois, la Méditerranée von Jean Portante vermischen sich Literaturgeschichte, Recherchearbeit, eine Familiengeschichte und dichte, philosophische Beobachtungsgabe mit Elementen, die an Roberto Bolaño, Christoph Ransmayr oder so manch anderen großen Schriftsteller erinnern, mit denen sich dieser meisterliche, kluge und gut geschriebene Roman absolut messen kann. Es ist die Geschichte einer Suche nach der Suche in der Suche, „la couche sous la couche“, die in einer dreifachen Mise en abyme die Geschichten dreier Suchender überlagert – Aeneas, Claude und Fernando – die jeder auf seine Art nach Heimat, Identität, ihrer Herkunft, ihrer Familie und ihrem Erbe forschen.
Claude ist ohne seinen Vater bei seiner Mutter aufgewachsen, hat später Literaturwissenschaft studiert und sich so gewissermaßen in die Fußstapfen seines abwesenden Vaters begeben, ein renommierter Literaturwissenschaftler. Claude verliebt sich, studiert und untersucht die Figur des Telemachos; er widmet sich klassischer Literatur, Polizeiromanen, Kafka und Comics. Dabei umkreist er das Werk seines Vaters, das er jedoch erst nach dessen Tod durch seinen Nachlass kennenlernt.
Fernando Rossi hat sich mit seiner These Contre Ulysse einen Namen gemacht. Gegen Odysseus, den Helden der Illias und der Odyssee von Homer, behauptet er die Figur des Aeneas – die dritte Schicht und eine wichtige Figur in Portantes Roman. In den Augen des Professors Rossi ist der trojanische Held ein kulturhistorisch und zeitgenössisch relevantes Motiv: der Exilierte und Flüchtende, der Besiegte und Geplagte, der sich auf eine Irrfahrt in eine neue Heimat begibt. All dies seien Werte, so seine These, für die Odysseus in der Literatur Bekanntheit erlangt habe – und das zu Unrecht, so Rossi! Odysseus gelte zwar als das Symbol des Umherirrenden, des Exilierten schlechthin, der von seiner Heimat Ithaka ferngehalten wird, doch im Grunde verbringt er acht Jahre seiner „Irrfahrt“ in den Armen von Calypso und Circe. Seine Irrfahrt ist eine Strafe der Götter, weil er als General im Trojanischen Krieg gekämpft hat, die Stadt belagert, zerstört und ihre Helden getötet hat, Kassandra entführt hat, seine Tochter Iphigenie willentlich opferte und vieles mehr. Odysseus ist kein Opfer, so die These, er ist ein Täter.
Aeneas hingegen sei der eigentliche Besiegte, der eigentliche Flüchtling. Er musste nach der Zerstörung von Troja fliehen, um sein Leben zu retten, erleidet Schiffbrüche und verliert seine Mannschaft, bis er schließlich, auf der Suche nach einer Heimat und einem Ziel (und bei Vergil der Etablierung der Erblinie, die zur Gründung Roms führt) die italienische Küste erreicht. Auf der Spur dieser Geschichten wogt der krebskranke Professor Rossi in seinen letzten Wochen über das Mittelmeer.
Familiengeschichte, Identitätssuche, Mythologie und Literaturrecherche verschmelzen in Jean Portantes Roman, die vielschichtigen Erzählstränge und Ebenen lösen sich leicht ab: Aeneas oder die Literatur, Claudes Untersuchungen und Fernando Rossis Suche; die Geschichten von Heimatlosen, Exilierten, Ausgeschlossenen und Suchenden. Une dernière fois, la Méditerranée sucht Vokabeln für die Poesie der Naturgewalten und beschreibt die Schönheit des Gesehenen. Zugleich werden Briefe, Interviews, fiktive Tonbandaufnahmen und ein Dokumentarfilm, Metatexte, Mythen in unterschiedlichen Fassungen und Interpretationen verglichen – spannend wie eine Polizeigeschichte, was in den Details und Quellen an Bolaño erinnert. Es geht um die Liebe zur Kunst und zu ihren Gestalten, um den Reichtum der Mythen der Metamorphosen von Ovid, Homer und Vergil, der Aeneis, Kafka oder Proust, Archäologie und Malerei … und ruft uns dabei ihre Gültigkeit über die Zeiten hinweg in Erinnerung. Denn auch wenn statt des Professors eine Flasche Meerwasser zu seinem Gedenken bestattet wird und die Geschichte damit ein scheinbares Ende findet, ist das Symbol der Irrfahrt des Aeneas in der heutigen Zeit der Flucht und Migration übers Mittelmeer von brennender Aktualität …
Das Imaginäre der zitierten Geschichten, die Leichtigkeit des spannenden, vielschichtigen Romans und die Schreibkunst machen Une dernière fois, la Méditerranée zu einem unglaublich guten Buch, gewiss zu einem der besten, das in den letzten fünf Jahren in Luxemburg veröffentlicht wurde.