Sicher sind Gattungsbegriffe und Definitionen literarischer Formen nicht als Blaupausen für literarische Texte gedacht; sie richten sich besser nach bestehenden Texten als anders herum. Ein Autor weckt dennoch Erwartungen, wenn er sich schon auf dem Buchdeckel einer reichen literarischen Tradition verschreibt, steckt den Erwartungshorizont ab, an dem sich der Leser beim Einstieg in die Geschichte orientiert.
Charles Meder nennt sein bei Op der Lay erschienenes Buch Aname eine Novelle, was angesichts eines Umfangs von fast zweihundert Seiten überrascht. Tatsächlich ist das Buch weitaus vielschichtiger angelegt als die Zuspitzung auf eine „sich ereignete unerhörte Begebenheit“, die seit Goethe als Kern der Novelle gilt.
Am Anfang steht bei Meder freilich die formal erforderliche Rahmenhandlung, in der ein Erzähler am Berliner Institut für Forensische Psychiatrie sich daran macht, eine Akte zu lesen. Damit sind einerseits die Zeichen gesetzt. Der Leser erwartet ein Zulaufen der Handlung auf eine Straftat, die womöglich mit der psychischen Erkrankung einer der Hauptfiguren zu tun hat: Die Studentin Jule Trochowski leidet, wie der Erzähler mitteilt, an einer multiplen Persönlichkeitsstörung. Andererseits erhält die Hauptfigur gleich zu Beginn einen entscheidenden Knacks, der sie als unzuverlässige Übermittlerin des Geschehens kennzeichnet.
Doch zunächst einmal fehlt sowohl von einer möglichen Straftat, als auch von einer psychischen Erkrankung jede Spur: Jule und ihr älterer Bruder Thilo berichten über das erste Drittel des Buches hinweg abwechselnd von ihrem Umgang mit der schwerkranken Mutter, die unerwartet und scheinbar grundlos ins Koma gefallen ist. Dabei prallen gegensätzliche Charakterzüge und Lebensentwürfe aufeinander; es kommt häufig zum Streit. Der pragmatische App-Entwickler Thilo geriert sich als gefühlskalter Pessimist, der seine Zeit lieber mit diversen Liebschaften verbringt als am Krankenbett seiner Mutter, während Jule sich dafür aufreibt, sich neben dem Architekturstudium um ihre „Mutti“ zu kümmern und nach einer Erklärung für deren Koma zu suchen. Nach und nach kommt sie nicht nur den Gründen für das schwierige Verhältnis ihres Bruders zur Mutter auf die Spur, sondern vor allem einer Liebschaft der Mutter zu einem deutschen Auswanderer in Kanada, die sie auf unerwartete Weise auch noch einem Mann näher bringt, der ohnehin bereits eine wichtige Rolle in ihrer Gefühlswelt spielt. Also doch ein Familienroman statt einer Novelle? Weit gefehlt. Schon werden Brüche in der Selbstdarstellung Jules offenbar, die immer heftiger zwischen Ich-Erzählung und personaler Darstellung der Geschehnisse schwankt. Auch die Auseinandersetzung mit der Mutter wird zunehmend zur Frage nach Identität und der Möglichkeit von Kommunikation: Wie lassen sich die unterschiedlichen Perspektiven auf die Mutter zu einer kongruenten Person vereinen, wie kann man lernen, mit seinen eigenen Widersprüchen zu leben? Zu diesem Aspekt des Romans scheint der Titel zu passen: „Aname“ soll auf ein indianisches Wort für „namenlos“ zurückgehen, wie Jule in Kanada erfährt, als fehle das, was die Person der Mutter eint und zusammenhält.
Doch wie Jule von einem Berg auf einen kanadischen Bergsee herabschaut, fliegt ein Falke vorbei. Die Germanisten freuen sich. Als „Falken“ bezeichnet die Literaturwissenschaft seit Paul Heyse ein Dingsymbol, das an entscheidenden Punkten der Handlung einer Novelle auftaucht (und bei dem es sich in den allermeisten Fällen nicht tatsächlich um einen Falken handelt). An dieser Stelle könnte das Buch eine Wendung zur Aufklärung des Geschehens nehmen, die Hintergründe erhellen und nach wenigen Seiten zu Ende sein. Doch der Leser hat erst die Hälfte hinter sich, als Jule erfährt, dass ihre Mutter gestorben ist. Die Geschichte wendet sich nun zunehmend von der Mutter als Fixpunkt der Handlung ab; auch der Blickpunkt des Bruders wird in den Hintergrund gedrängt. Jules Persönlichkeitsstörung, ihre paranoiden Zustände und unberechenbaren Reaktionen gewinnen dafür an Raum. Die buchstäblich unerwartete, nämlich durch die Handlung kaum vorbereitete „Begebenheit“, mit der der Leser irgendwann vielleicht gar nicht mehr rechnet, wird erst auf den letzten drei Seiten des Buches vom Erzähler des Anfangs mitgeteilt. Hier schließt sich der Kreis, hier kehrt der Autor auch formal zur Novelle zurück, auch wenn er wesentliche Aspekte der Handlung in der Schwebe lässt.
Aname ist ein in seiner Vielschichtigkeit ambitionierter Roman, dem die formalen Bestimmungen der Novelle als Trick dienen, Lesererwartungen zuerst zu wecken und anschließend zu unterlaufen und zu irritieren. Dabei zerfasert allerdings die Handlung ab der Hälfte des Buches zunehmend, was durch die Einführung neuer Figuren und die Zurücklassung loser Handlungsstränge begünstigt wird. Die von Anfang an mit Zweifeln belastete Zuverlässigkeit der Berichterstatter sowie die Auseinandersetzung mit der Identitätsproblematik entziehen immer wieder den Handlungen und Ansichten der Figuren die Nachvollziehbarkeit durch den Leser. Bedauerlich wirkt auch der Gebrauch einer zwar routinierten, aber völlig ereignislosen, mit altbackenen Formulierungen durchsetzten Sprache, die weit hinter dem formalen Experiment dieses Entwurfs zurückbleibt.