„Tant des univers s’éteignent en moi“ beklagt sich Bérenger in Eugène Ionescos Le roi se meurt. Sein Königreich löst sich mit seinem Tod in Luft auf. „Cela fond, cela s’évapore“. Was bleibt von einem, wenn man nicht mehr da ist, hat sich Ionesco immer wieder gefragt. Und bleibt überhaupt etwas?
Ja, zeigt Claude Reiles’ roh.fassung. In 85 Gedichten setzt sich der Autor mit der Krankheit und dem frühzeitigen Tod seiner Frau auseinander. Mit dem Gedichtband setzt er ihr gleichzeitig ein Denkmal und versucht zugleich, den Verlust zu verarbeiten. „Du bist nicht gestorben“, schreibt Claude Reiles in seinem Vorwort. Denn, was von einem bleibt, sind die Erinnerungen, die die Hinterbliebenen in sich tragen, wahren – und wie in diesem Fall – teilen. In den chronologisch geordneten Gedichten gewährt Claude Reiles dem Leser Einblick in sein Abschiedsjahr. Schock, Wut, die Suche nach der eigenen Identität, aber auch Hoffnung und Akzeptanz sind nur einige der Emotionen, die der Autor durchlebt.
Zentral ist aber die Diskrepanz zwischen dem eigenen Verlust und dem Lauf des Lebens. Während für den Autor mit dem Tod seiner Frau eine Welt zusammenbricht und die Zeit stillzustehen scheint, geht die Welt achtlos ihren Lauf.
„Du stürzt.Zerschellst.Zerschellt eine Welt.Im Anmarsch, die nächste Geburt.“
roh.fassung ist ein Versuch, diese Welt nicht gänzlich verschwinden zu lassen, „pour que surtout tu ne meures pas“.
In diesem Gedichtband wird der Tod in allen seinen Facetten thematisiert, sowohl metaphysisch, wie klinisch. Der Tod gehört zum Kreislauf des Lebens. Sterben ist etwas Natürliches, etwas Organisches. Und doch etwas so Einschneidendes und Unverständliches. Die Frage nach dem Wieso bleibt unbeantwortet, „verkommt zu einem Hauch, der sich selbst erstickt.“
„Du zahlst.Zu früh, zu hoch,Schuldlos,Du zahlst.“
Doch in roh.fassung ist der Tod kein abstrakt-metaphorisches Etwas, das den ahnungslosen Menschen unvorbereitet trifft. Das Ableben seiner Frau romantisiert Claude Reiles nicht. Sterben ist hässlich, brutal, klinisch. So beschreibt der Autor den körperlichen Zerfall seiner Frau minutiös und zeigt, wie sie, einst voller Leben, nach und nach zu einem Schatten ihrer selbst wird.
„Salami gleich, in Scheibchen,Du schmolzest kümmerlichDahin,Zum Stumpf, zum Krümel,Einen letzten HalmAus StaubZu Staub.“
In unserer (westlichen) Gesellschaft werden Tod und Sterben ausgeblendet. Der Tod findet heute nicht mehr im Kreis der Familie statt, sondern er wird in die Obhut der Krankenhäuser übergeben. Das Thema Sterben ist unangenehm, unpassend, unerwünscht.
So ist Claude Reiles’ Entscheidung, den Verlust seiner Frau sowie sein Trauerjahr so offen und ehrlich mit dem Leser zu teilen, ein wichtiger und mutiger Schritt. Während das Schreiben dem Autor geholfen hat, mit seiner Situation umzugehen, so kann das Lesen der Gedichte anderen helfen, eigene Verluste zu verarbeiten.
Gleichzeitig funktioniert der Text aber auf einer weiteren Ebene. Manche der Gedichte sind kodiert und der Leser fühlt sich als Eindringling, der ein Zwiegespräch zwischen dem trauernden Witwer und seiner verstorbenen Frau stört. Somit ist roh.fassung gleichzeitig ein sehr intimes und universelles Werk.
Obwohl es sich um ein Erstlingswerk handelt, welches ursprünglich nicht zur Veröffentlichung gedacht war, hat der Autor nicht einfach nur darauf los- und sich alles von der Seele geschrieben. Er hat sich Gedanken um Sprache, Form und Struktur gemacht. Dies gibt dem Geschriebenen mehr Tiefe und Glaubwürdigkeit. Dies ist besonders deswegen hervorzuheben, da der Autor den Gedichtband im Eigenverlag herausgebracht hat.
Mit Hilfe eines Lektors wäre aus roh.fassung wohl ein noch eindringlicheres Band geworden. Denn die große Anzahl an Gedichten – roh.fassung umfasst ganze 126 Seiten – erschlägt den Leser zeitweilig und viele Themen und Motive wiederholen sich. Dadurch ist dem Autor die Gratwanderung „zwischen existentieller Philosophie und kitschigem Pathos“ nicht vollständig gelungen. Dennoch, roh.fassung ist ein lesenswertes Werk, welches einen wertvollen Anstoß dazu gibt, sich mit Tod, Sterben und Trauer auseinanderzusetzen.