Ein Büroangestellter kommt an einem Januarabend nach Hause, betrachtet die Schneeflocken vor dem Fenster, schläft über einem Buch ein. Am frühen Morgen schippt er Schnee vor seiner Einfahrt, trinkt Kaffee, fährt zur Arbeit. Wenig äußere Handlung für eine Erzählung von acht Seiten, banalster Alltag. Ein typischer Kontext für eine Kurzgeschichte also, für eine Textform, der es – laut Wolfdietrich Schnurres schöner Definition – darum zu tun ist, dem Leser ein „Stück herausgerissenes Leben“ zu präsentieren, kein beliebiges Stück natürlich, sondern ein möglichst bedeutsames. Die auf den ersten Blick einfache Aufgabe, den Fußweg vor seinem Haus vom Schnee zu befreien, stellt das ganze Wesen dieses Mannes auf den Prüfstand: Sie erinnert ihn daran, wie er seine Nachbarin vor einem Jahr kennengelernt und eine Affäre mit ihr angefangen hat. Die Nachbarin, der er immer noch nachtrauert, ist mit ihrem Mann weggezogen; er hat keinen Kontakt mehr zu ihr. Ihm fällt auch auf, dass ihm das Streusalz ausgegangen ist. Statt sich selbst zu kümmern, will er einen Arbeitskollegen bitten, ihm auszuhelfen, und hat prompt ein schlechtes Gewissen.
Ist er jemand, der das Leben einfach nur geschehen lässt? Hier bricht die Erzählung ab; eine Kurzgeschichte verlangt ein offenes Ende. Doch es gibt ein Wiedersehen: sowohl mit dem Angestellten als auch mit der Nachbarin und ihrem Mann, aus deren Blickwinkel Gast Groeber andere Geschichten in Eng Stad ënnert dem Himmel erzählt. Die Nachbarin entdeckt nach der Scheidung ihre Freiheit wieder, ihr Ex-Mann findet eine passendere Partnerin. Auch in anderen Geschichten taucht das Figurenpersonal aus den vorhergehenden Texten in unterschiedlichen Konstellationen wieder auf, leicht erkennbar trotz der Anonymität, die der durchgehende Gebrauch von Personalpronomen den Figuren verleiht. Das Buch entpuppt sich nach und nach mehr als ein Episodenroman und weniger als eine Sammlung von Kurzgeschichten. Eine bemerkenswerte Eigenschaft der Perspektivierung der Handlung besteht darin, dass der Autor sie nicht dazu benutzt, die Standpunkte der Figuren gegeneinander auszuspielen. Die Wehmut des sitzengelassenen Angestellten, die Sehnsüchte der Nachbarin und die Bedürfnisse ihres Mannes stehen gleichwertig nebeneinander und verleihen jeder Figur eine Vielschichtigkeit, die sich aus der Einzelperspektive jeweils noch nicht ergibt.
Die Suche nach einem sinnvollen Dasein, nach ein bisschen privatem Glück, auf die Gast Groeber die Figuren vieler seiner Bücher schickt, wird hier angesichts eines offensichtlich sinnlosen Geschehens verhandelt. Im Mittelpunkt der Vernetzung von Schicksalen steht der Unfalltod eines Studenten, dessen Auswirkungen sich wie Nachbeben in einer ganzen Reihe von Lebensentwürfen bemerkbar machen, etwa in den Zweifeln des Pfarrers, der die Trostworte, die er der Familie bei der Beerdigung zuspricht, selbst nicht glauben kann, den mahnenden Worten eines Freundes bei einer Feier mit üppigen Alkoholkonsum oder die sexuellen Eskapaden der Mutter, die vom Tod des Sohnes und der Rückhaltlosigkeit der Ehe ablenken sollen.
Dass der Autor gelegentlich vom traditionellen Schema der Kurzgeschichte abweicht, ergibt sich aus der Notwendigkeit, die Handlung so weiterzuspinnen, dass sich die Lebenswege der Figuren kreuzen können. Sicher wäre es nicht sinnvoll, gerade die wiederkehrenden Figuren in jedem Text, der ihre Perspektive zeigt, erneut vor einen tiefgreifenden emotionalen Konflikt zu stellen. Dabei dient der innere Monolog der Figuren aber mehr als einmal dazu, nicht nur zu veranschaulichen, was die Figur in dem Moment gerade antreibt, sondern allgemeine Beobachtungen auszubreiten, deren Bezug zur Handlung bestenfalls beiläufig erscheint. So lässt Groeber eine der Hauptfiguren beim Spaziergang durch die Stadt denken: „Lëtzebuerg? Wat ass dat? Lëtzebuerger sinn? Wat heescht dat?“, was als Antwort zu nicht viel mehr führt, als einem Zitat aus einem Songtext. Oder er lässt sie eine Gruppe von Kindern mit ihren Betreuern beobachten – offenbar nur, um sie mit einer jungen Frau darüber streiten zu lassen, ob die Kinder früher anders waren als heute.
Während diese reflexiven Passagen manchmal ein wenig von der Handlung losgelöst wirken, als zwinge der Autor den Figuren seine eigenen Ansichten auf, zeigen sich seine Stärken in den beschreibenden Passagen, in denen die Lebenseinstellung einer Figur ihre Wahrnehmung auf eine entsprechende Weise einfärbt. In einer der stärksten Passagen des Buches beobachtet die Schwester des Toten den Pfarrer bei der Segnung des Sarges, ohne deren religiöse Dimension nachvollziehen zu können: „De Paschtouer ass grad amgaang, Laténgesch ze schwätzen. Dann zappt en eng Zort Toilettebiischt an e klenge metallenen Eemerchen a besuddelt de Sarg mat Waasser. Dat pärelt um poléierten Holz zu décken Drëpsen zesummen, eng dovunner bleift der klenger Jesusfigur am Nuebel hänken.“