Man redet oft von posthum veröffentlichten Werken, als handele es sich dabei um ein literarisches Ganzes, ein Phänomen, das nicht weiter zerpflückt werden muss. Dabei würde eine regelrechte Taxonomie dieser Werke sehr schnell fundamentale Unterschiede sowohl im soziologischen Werdegang des Buches als auch im Fortschrittszustand der verschiedenen Manuskripte entblößen. Da wären zum Beispiel jene posthumen Werke, die der Autor nie im Leben veröffentlicht hätte – und die es dann trotzdem wurden, meist dank der Erben oder eines überengagierten und/oder am ökonomischen Wohlergehen seines Betriebes interessierten Verlegers. Man denke hier an Nabokovs unfertiges The Original of Laura, ein Manuskript, das der Autor explizit nach seinem Tod zerstört haben wollte. Dann gäbe es das Beispiel von David Foster Wallaces Pale King: Wallace hatte vor seinem Freitod keinerlei Anweisungen bezüglich einer Veröffentlichung des Werkes gegeben. Problematisch ist in vielen Fällen das Verletzen der kreativen Intimsphäre, welche bei Autoren meist im umgekehrten Verhältnis zu ihrem Bekanntheitsgrad steht.
Im Falle von In c-Moll. Wörter, Texte erübrigt sich die heikle Frage nach dem Respekt des Willens des Autors: im Vorwort wird klargemacht, dass dieses Buch ganz bewusst Guy Wagners letztes Werk sein sollte, dass der verstorbene Autor die Veröffentlichung gutgeheißen habe und die Textsammlung vor seinem Ableben (so gut wie) fertig gestellt worden war. Das testamentarische Vorhaben ergibt sich weiterhin aus der Struktur des Bandes, die alten, teilweise überarbeiteten Miniaturen neuere Texte nebenanstellt. Die Strukturierung des Buches funktioniert sogar überaus gut, denn semantische oder formale Echos zwischen nebeneinander gestellten Texten verleihen den Fragmenten eine Art strukturelle Kohäsion, die über die Schwächen verschiedener Passagen hinwegweist. So findet man in zwei der stärkeren Texte des Bandes, „Schweigen“ und „Der leere Himmel“, semantische Varianten auf das Schweigen – einmal wird das Schweigen als optimales Kommunikationsmittel zwischen zwei Liebenden dargestellt, in der zweiten Erzählung dient es, den aufkommenden Atheismus des Erzählers zu verbildlichen.
Der engagierte Guy Wagner, dessen künstlerische Arbeit durch seine literarischen und musikalischen Vorlieben eingerahmt war – Wagner übersetzte Becketts Theater ganz vorzüglich ins Luxemburgische, schrieb einen Roman über die letzten Monate von Gustav Mahler und veröffentliche eine Referenzbiografie über Mikis Theodorakis –, greift in diesem Sammelsurium aus fragmentarischen Texten sowohl verschiedene Genres als auch diverse Themen auf. So findet man, lose verknüpft, Fiktionen über Trennungen, Einsamkeit, Liebe, technologischen Fortschritt, die Gräueltaten der rezenten Geschichte der Menschheit (unter anderem die Pariser Attentate und das Schicksal des ertrunkenen Flüchtlings Aylan Kurdi) oder auch den inneren Monolog eines vorzeitig entlassenen Arcelor-Arbeiters. Ziemlich gelungen sind die drei Hommagen an diverse griechische Mythen, die den Leser zweimal durch die autodiegetische Perspektive des Ich-Erzählers in die Perspektive der mythologischen Figuren eintauchen lassen. Hier wird weniger, wie mittlerweile üblich, das Einbetten des Narrativs in ein zeitgenössisches Gewand oder ein postmodernes Remixverfahren praktiziert; vielmehr wird die Universalität des Mythos durch das empathische Eintauchen in die Ich-Perspektive verstärkt, die Fiktion als mögliche Lebenserfahrung durchdekliniert.
Da es sich hierbei um eine Werkschau handelt, die Texte aus über vier Jahrzehnten vereint, wäre es von Nutzen gewesen, jedem Auszug chronologische Hinweise hintanzustellen, um sie ins Wagnersche Gesamtwerk einordnen zu können. Dies ist umso bedauerlicher, da die Qualität der Mikrofiktionen doch sehr schwankt. Am schwächsten sind Wagners Texte, wenn sie zu offensichtlich anprangern, wenn sie zum Beispiel etwas zu wohlwollend und fingerzeigend die Allmacht moderner Technologien verurteilen, ohne dieser Kritik in einer fiktionalen, möglichen Situation ihr Entfremdungspotenzial zu verleihen. Wagner mag sicherlich Recht haben, hiervor zu warnen, nur geben seine Kritiken genau den reaktionären Dichotomien, die der Autor anderswo überzeugend persifliert, Reaktionsfläche. Wenn in „Terminus“ die Schüler ihre „Game Boys“ und „Nintendos“ [sic!] herauskramen oder in „Unser TV-Verhalten. Ein Divertimento“ (bewusst) jedes Klischee der 08/15 Luxemburger Familie bedient wird, wünscht man sich eine ausgewogenere Analyse der Mediatisierung unserer Gesellschaft.
Am besten ist Wagner immer dann, wenn er sich dem reinen Fiktionalen hingibt und eine beklemmende Miniaturwelt entwickelt. Hier seien stellvertretend das rekursive „Am Fenster“, das mit Perspektiven und Metaebenen eine fast schon bildliche, an Escher erinnernde Qualität erlangt und das beklemmende, unheimliche „Schritte“ erwähnt. Auch sprachlich schwankt die Qualität des Bandes: gibt es manche Miniaturen, welche klischeehaft und unausgegoren wirken (Passagen aus „Nur eine Taube“, die Schulbuchallegorie „Krähen krächzen in krummen Kreisen über krachendem Eise“), so findet man in anderen Erzählungen („De Profundis“, „Es sollte ein Picknick werden“, „Angst“) wiederum Formulierungen, die zeigen, dass Wagner sowohl ein begnadeter Beobachter seiner Umgebung als auch ein vorzüglicher Stilist war, dessen Ausdrucksweise zwar eher einer manchmal etwas angestaubten Eleganz Tribut zahlte, als dass sie der Sprache Freiraum für eine verspieltere Experimentierfreudigkeit geschaffen hätte, im Endeffekt aber den zwischen Melancholie, Entsetzen und humanistischen Hoffnungsschimmern oszillierenden Texten die nötige Sprachgewalt verlieh.