Die rege Aktivität an Artikeln in den letzten Wochen zum „sehr speziellen“ Luxemburger Gesundheitssystem1, 2, 3, 4, 5 zeigt, dass dieses System eines neuen Konzepts und einer realistischen Vision für die Zukunft bedarf. Deutlich wird aber auch, dass zunehmend Interesse an einer sachlichen Diskussion besteht, die manche der derzeit geführten Rückzugsgefechte und gegenseitige Anschuldigungen4 ersetzt.
Leider ist Luxemburg derzeit und womöglich für die nächsten Jahre nicht unbedingt ein guter Ort für hochqualifizierte und fachlich anspruchsvolle Ärzte: Die Ärzte-Demografie ist ungünstig, vor allem im Krankenhausbereich überaltert der Mdezinerstamm. Die mangelnde Attraktivität bestimmter Positionen in der akuten Patientenversorgung ist trotz überdurchschnittlicher Bezahlung bereits jetzt erkennbar. Reformen am System sind nicht lesbar genug und ihnen fehlt die Richtung zur Zukunftsgestaltung. Nicht zuletzt lässt die latente Darstellung der Ärzte als ökonomisch gesteuerte „Schmarotzer“ eines ihnen vorgegebenen Systems4 Zweifel für die Zukunft aufkommen.
Das weltweit oder sogar „galaktisch“ beste Gesundheitssystem, das Luxemburg habe, droht immer mehr wegen seines sehr speziellen Aufbaus und nach Jahrzehnten konzeptueller Stagnation zu einem „vermurksten“ System zu werden. Die sich abzeichnende Knappheit von qualifiziertem Personal in Medizin und Pflege könnte dabei als Brandbeschleuniger wirken. Ohne Zukunftskonzept könnten auf Luxemburg durch die „normative Kraft des Faktischen“ erheblichen Personal- und Qualitätsprobleme zukommen1.
Ziel dieses Artikels ist es aber nicht, eine ideologisch gefärbte und unproduktive Diskussion fortzusetzen, sondern die Situation sachlich zu analysieren und Wege für die Zukunft aufzuzeigen. Aus meiner Sicht gibt es vier Schwerpunkte, die einer wissenschaftlichen Diskussion harren und über die politisch-sachlich zeitnah entschieden werden muss.
1. Eine solidarisch finanzierte Bürgerversicherung ist nicht nur eine politisch-strategische Entscheidung, die es zu respektieren gilt. Ich persönlich halte sie auch aus gesellschaftspolitischen Überlegungen für das langfristig überlegene System. Gesundheitsversorgung und Bildung sind Sachleistungen entwickelter Demokratien an ihre Bürger, die ein Maximum an Egalität erfordern7, und dieser Ansatz kann auf Erfolge verweisen, wie sich etwa in Skandinavien beobachten lässt. Allerdings erfordert dieses System eine sehr präzise und professionelle Steuerung durch seine Manager, also das Gesundheitsministerium, das Sozialministerium und die CNS. Hier gibt es klare Defizite und Webfehler, die dazu geführt haben, dass das im Grunde intelligente System auch durch seinen sektorübergreifendenden Charakter (ambulant-stationär) immer mehr in eine unnötige Grundsatzdiskussion gezogen wird.
Fehler 1: Die automatische Konventionierung aller Ärzte in einem rein solidarisch finanzierten, geschlossenen System mit „staatlich“ vorgegebenen Tarifen ist wissenschaftlich, in seiner Konstruktion wie auch der Umsetzung ein Unding.
Fehler 2: „Staatlich“ vorgegebene Tarife machen Sinn in diesem System und könnten ein wirksames Instrument darstellen, die Medizin im Sinne einer vernünftigen Gesundheitsprävention und -versorgung zu gestalten. Das erfordert aber eine ständige und arbeitsintensive Korrektur und Anpassung der Tarife an die medizinisch-technische Realität, an die Entwicklung der Gesellschaft und des Landes. Diese Anpassung ist nicht erfolgt, und es ist eine geradezu surreale Situation mit Tarifen aus einer anderen Zeit und den beschriebenen Fehlentwicklungen1, 3 entstanden.
Fehler 3: Statt das derzeit suboptimal gesteuerte System in seiner rigiden Form weiter laufen zu lassen, sollte man über Öffnungen nachdenken. Einmal hin zu einer weitaus offensiveren Organisation der ambulanten Medizin (Förderung von Prävention und Salutogenese), andererseits über Zusatzleistungen und Zusatzversicherungen: medizinfremde Hotelleistungen (Einzelzimmer), Auslandsbehandlungen gerade auch in der Großregion, alternative Therapien.
Das könnte über Zusatzversicherungen vom Typ CMCM oder Caisses mutuelles, oder auch als Zusatzleistungen der CNS finanziert werden. Dieses Ventil ist nötig, um dem Wunsch vieler Versicherter entgegenzukommen, mehr oder anders für ihre Gesundheit, bei einem Therapeuten ihrer Wahl, auszugeben – ausgedrückt durch die Zehntausenden Patienten, die sich trotz CNS-Vollversicherung im Ausland behandeln lassen.
Kommt nun das soziale Argument, so ist es keiner Regierung verboten, „diskrete Mechanismen für ökonomisch Schwache“7 zu ergreifen, etwa Chèques-service nicht nur für Kinderkrippen, sondern auch für diese Art von Komplementarleistungen, die nicht jeder will oder verlangt, auszugeben. Keinem Arbeitgeber sollte es verboten sein, anstelle eines Dienstwagens oder ergänzend dazu seinem Angestellten Zusatzleistungen im Bereich Gesundheit anzubieten.
2. Weitaus wichtiger als die Finanzierung ist die Architektur der Gesundheitsversorgung: ein zentraler Punkt, der in der bisherigen Diskussion sträflich vernachlässigt wurde, der aber eine entscheidende Hebelwirkung auf die konkrete Patientenversorgung und die Zukunft hat.
Gesundheitsversorgung ist eine Versorgungskette, die sich zudem radikal verändert hat. Prävention, sogar Salutogenese, Hausarztversorgung, ambulante und stationäre Akutbehandlung, Spitzenmedizin, Rehabilitation und Versorgung chronischer Kranker sollten Hand in Hand gehen und sich ergänzen, statt sich Konkurrenz zu liefern, im Wege zu stehen oder doppelt Ressourcen zu fordern. Verglichen mit seinem Ausgangspotenzial (solidarische Bürgerversicherung, Einheitskrankenkasse7, keine sektorielle Trennung in ambulant und stationär ...) blieb man in Luxemburg, im Vergleich zu den Musterschülern wie Skandinavien oder den Niederlanden, weit unter seinen strategischen Möglichkeiten. Fraglos ist das Luxemburger System großzügig und es wurden in den letzten Jahrzehnten durch Fusionen Regionalkrankenhäuser mittlerer Größe ausgebaut. Sie machen sich aber weiter auf kleinstem Raum Konkurrenz, was zwei wichtige und zukunftsträchtige Entwicklungen behindert.
Spitzenmedizin: Niemand verteilt mehr komplexe medizinische Eingriffe auf kleinere Einheiten. Sie werden systematisch in Zentren behandelt, wo sowohl aus medizinisch-qualitativen wie auch aus ökonomischen Erwägungen nachweisbar bessere Behandlungsergebnisse zu erwarten sind. Bislang ist kein klares Konzept für Luxemburg erkennbar, ob man für ein konsequentes „Outsourcing“ dieser Eingriffe in ausländische Fachkliniken oder den ebenso konsequenten Aufbau von Exzellenzzentren hier, zusammen mit einer Medical School, optiert. Klar wäre, dass die Ärzte dieser Exzellenzzentren eng an diese Institution gebunden wären, wobei unerheblich wäre, ob das in einem Angestelltenverhältnis oder als Freiberufler erfolgte (siehe auch unter4).
Ambulante Medizin: Der Ausbau der Regionalkrankenhäuser in Kombination mit dem „sehr speziellen“ Luxemburger Belegarztsystem2, 3 hat einen guten Teil der ambulanten Medizin an sich gezogen. Mit der Folge, dass dieser Bereich nicht nur überteuert und administrativ überladen wurde, sondern gleichzeitig eine mehr dezentrale Entwicklung personell, organisatorisch und auch konzeptuell ausgetrocknet wurde. Die Diskussion um das IRM-Angebot ist nur die Spitze des Eisbergs. Konsultationen, einfache Untersuchungen, bis hin zu ambulanten Eingriffen mit geringem Risiko wurden kostenintensiv und administrativ aufwändig ins Spital verlagert.
Abgesehen von den überhöhten Kosten für die Gemeinschaft wurde damit vor allem die regionale und hausärztliche ambulante Entwicklung in der medizinischen Versorgung ausgebremst. Die regionale Entwicklung des rasch wachsenden Landes wird behindert und der Patient wird eine Geisel der vier bestehenden Krankenhäuser und ihrer Organisation. Effekte wie erschwerte pädiatrische Versorgung, Vernachlässigung der Regionen, überfüllte Notaufnahmen, lange Wartezeiten auf eine IRM-Analyse sind als Konsequenzen zu beobachten. Das fantastische Potenzial des Systems, sektorübergreifend eine holistische Gesundheitspolitik zu gestalten, durch dezentrale und regional aufgefächerte ambulante Strukturen, durch Förderung von Prävention, durch Telemedizin, durch Entlastung der Spitäler und Konzentration auf ihre Kernkompetenz – schwere Akutmedizin – endet derzeit in den überfüllten Notfallaufnahmen und Stationen der vier Regionalkrankenhäuser.
3. Attraktivität und Profil der Gesundheitsberufe: Die AMMD weist zu Recht auf die sehr morose Grundstimmung in Medizin und Pflege hin, und hier liegt auch ein guter Teil der aufgeheizten, emotionalen Diskussion begründet. Die ärztliche Demografie ist vor allem im Krankenhausbereich sehr ungünstig. Rund 40 Prozent der derzeitigen Ärzte, meist die Leistungsträger, werden in zehn Jahren nicht mehr da sein – falls sie bis dahin durchhalten und nicht wieder ins Ausland zurückgehen. Das „sehr spezielle“ Luxemburger Belegarztsystem lebt derzeit von ihnen, da sie ihre Karriere in einem System „auslaufen“ lassen, das schon lange nicht mehr zeitgemäß und glaubwürdig ist.
Dieses System ist Teil der „Luxemburger Gesundheitslüge“1. Denn ein solidarisch versichertes System mit Einheitskasse und Einheitspreisen, mit automatischer Konventionierung aller Ärzte, ohne vernünftige Abgrenzung der inländischen Ärzte gegenüber den Kollegen in grenznahen Ausland (ohne Konvention mit der CNS und Bindung an deren Tarife ) erfordert im Grunde ein klar strukturiertes Angestelltenverhältnis in Pflege und Medizin.
Stattdessen sehen sich die gerade die Ärzte, die als Belegärzte seit Jahrzehnten die Versorgung der gesamten und stark wachsenden Bevölkerung auf Facharztniveau sicherstellen, Anfeindungen ausgesetzt, sie seien „Schmarotzer“ – bekämen gratis Geräte und Personal gestellt, seien Fremdkörper im System und würden reinen Lobbyismus betreiben4.
Die Koordinaten haben sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend geändert. Lag früher der Akzent auf der Unabhängigkeit und Freiberuflichkeit der Ärzte, haben die Rahmenbedingungen gerade an den Kliniken nun zu einem Zustand der Scheinselbstständigkeit (nur ein Arbeitgeber, nämlich die CNS ) geführt, bei dem außer der zu zahlenden Sozialversicherung mit Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteil wenig an einen liberalen Beruf erinnert. Der Status als „Belegärzte“, die in ihren Praxen noch Tausende Mitarbeiter beschäftigen, erweist sich meist als Danaer-Geschenk. Denn neben der doppelten Arbeits- und Stressbelastung in Praxis und Klinik müssen in einem zunehmend problematischen Umfeld Immobilien finanziert und unterhalten werden.
Ansonsten wurde in einem für Angestellte hoch protegierten Arbeitsumfeld hingenommen, dass außerhalb jeglicher Arbeitszeit- und Urlaubsregelung; ohne geregelten Schutz bei Schwangerschaft und Arbeitssicherheit; bei wöchentlicher Arbeitszeit ohne Begrenzung und Bereitschaftsdiensten oft zum Nulltarif, die physische und psychische Gesundheit der Mediziner, ihr Familienleben und ihr soziales Netz ruiniert beziehungsweise stark beeinträchtigt wurden. Nicht nur eine Fülle soziologischer Studien, auch die Realitäten vor Ort zeigen, dass das Argument der guten Bezahlung der Ärzte hier nicht mehr greift.
Würde man ein angemessenes und international konkurrenzfähiges Gehalt, eine dem Pflegebereich vergleichbare Arbeitsorganisation (maximal 10,5 Stunden, 46 Wochenstunden, 170 Prozent Nachtarbeit, 200 Prozent Sonn- und Feiertag, Arbeitsschutz, Mutterschutz, Krankenstand ....) ansetzen, wäre dieses System entweder deutlich teurer oder ebenso weniger leistungsfähig. Ohne das Konstrukt des „scheinselbstständigen“ Arztes würde es innerhalb weniger Tage kollabieren.
Die Mehrheit der Ärzte wünscht sich zumindest eine offene Diskussion dieses Themas, was in den aktuellen Diskussion leider kaum Beachtung findet3, 4, 5, 7. Es erfordert aber eindeutig eine Bewertung des gesamten Systems und seiner Architektur (siehe Punkt 3), denn die Zukunft könnte in eine vielgestaltigere Arbeitswelt für Ärzte münden: Spitzenmedizin mit festen Vertragsstrukturen; Belegärzte in kleineren regionalen Strukturen; freiberufliche Ärzte im ambulanten Bereich; Ärztegruppen, berufsübergreifende und krankheitsorientierte Gruppen.
4. Auch im Hinblick auf die Großregion bleibt Luxemburg mit dem Ausgangspotenzial seines Gesundheitssystems und seiner Finanzkraft unterhalb seiner Möglichkeiten. Gesundheit und Medizin wurden kaum als Wirtschaftsfaktor und, noch wichtiger, auch kaum als Bindeglied und identitätsstiftender Faktor in der Großregion erkannt. Das ist bedauerlich, denn das Großherzogtum schöpft nicht nur aus dem Reservoir der Arbeitskräfte im Gesundheitssektor der Nachbarländer, es finanziert auch einen Teil seiner Gesundheits- und Sozialausgaben über die Grenzgänger.
Es ist mehr als einen Gedanken wert, einen grenzüberschreitenden Gesundheits- und Versorgungsraum mit den umliegenden Regionen zu schaffen, ähnlich der Euregio8 im Dreiländereck Aachen, Maastricht und Liège.
Luxemburg könnte eine Vorreiterrolle spielen und Motor einer innovativen grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung werden. Vorausgesetzt, man macht seine Hausaufgaben und löst die eigenen Probleme. Eigentlich wären das Luxemburger Gesundheitssystem und die Gesellschaft von ihrem Potenzial her dazu in der Lage.
Es bleibt zu wünschen, dass die künftige Regierung diese Themen konstruktiv und sachlich aufnimmt und dem Gesundheitssystem endlich neue Perspektiven einhaucht.