737,2 Millionen Euro Überschuss, Tendenz steigend: So lautete am 31. Dezember 2017 die Bilanz der Gesundheitskasse (CNS) zur Krankenversicherung. Abzüglich der gesetzlich geforderten Mindestreserve von zehn Prozent der laufenden Ausgaben, zählte sie Ende 2017 einen Nettoüberschuss von 466,9 Millionen Euro. Man sollte meinen, dass dies genug Spielraum für neue Gesundheitsleistungen für die Versicherten bietet.
Noch vor wenigen Jahren sahen die Finanzen der Gesundheitskasse weitaus desolater aus. 2010 verfügte sie über einen unzureichenden finanziellen Handlungsspielraum mit Rücklagen in Höhe von 194,5 Millionen Euro. Der Gesamtüberschuss belief sich damals nach Abzug der gesetzlichen Mindestreserve auf 82,9 Millionen. Deshalb wurden ab 2011 im Rahmen einer Gesundheitsreform mehrere Sparmaßnahmen ergriffen, um die Finanzen wieder ins Lot zu bringen.
Um zusätzlichen Handlungsspielraum zu schaffen, wurde die gesetzliche Mindestreserve in den Jahren 2011 bis 2013 zunächst auf 7,5 Prozent der laufenden Ausgaben gesenkt und belief sich 2014 auf 8,5 Prozent, bevor 2015 wieder die üblichen zehn Prozent zur Pflicht wurden. Auch Erstattungen bei bestimmten Gesundheitsleistungen wurden zu Lasten der Versicherten gekürzt. Nach vier Jahren Sparprogramm war die finanzielle Situation der CNS wieder im Lot und die Rücklagen haben seitdem kontinuierlich zugenommen.
Die damit gewonnenen neuen Reserven werden in den kommenden Jahren von einer Reihe Maßnahmen verschlungen, welche die jetzige Regierung seit ihrem Amtsantritt in die Wege geleitet hat. Hierzu gehören unter anderem der Bau des Südspidol in Esch/Alzette oder die Überarbeitung der bestehenden Tarif- und Leistungskataloge, die so genannten Nomenklaturen, beziehungsweise die erstmalige Verhandlung von Leistungskatalogen mit den Ergotherapeuten oder den Osteopathen.
Auch wenn diese geplanten Ausgaben allesamt wichtig für die Zukunft unseres Gesundheitssystems sind, ermöglichen sie insgesamt keine nennenswerten, aber dringend nötigen Verbesserungen des aktuellen Leistungsangebots für die Versicherten. Nur auf Druck der Gewerkschaften wurden diesbezüglich zwei Maßnahmenpakete beschlossen, die hauptsächlich im Präventionsbereich angesiedelt sind.
Wie wichtig und richtig die Umsetzung dieser Gewerkschaftsforderung letztendlich ist, belegen die alljährlichen Statistiken der Gesundheitskasse über die durchschnittliche Eigenbeteiligung der Versicherten – sprich den Anteil der Gesundheitskosten, der nicht von der CNS erstattet wird. Die Eigenbeteiligung lag 2017 bei durchschnittlich 5,1 Prozent über alle in der Nomenklatur vorgesehenen Leistungen. Berücksichtig man auch jene Leistungen, die aufgrund der veralteten und unvollständigen Nomenklaturen integral vom Versicherten bezahlt werden müssen, wie etwa die so genannten convenances personnelles oder die Tarifüberschreitungen durch den behandelnden Arzt, steigt der durchschnittliche Anteil der Eigenbeteiligungen auf geschätzte 18,2 Prozent. Vor allem zwei Bereiche mit sehr hohen Eigenbeteiligungskosten stechen hervor: zum einen die Optikerleistungen, deren Kosten im Schnitt zu 74,6 Prozent vom Versicherten getragen werden, zweitens die Zahnarztkosten, die für die Patienten mit etwa 46,8 Prozent Eigenbeteiligung ins Gewicht fallen.
Auf den Sitzungen der Herbst-Quadripartite im Oktober 2016 und 2017 wurden insbesondere für diese beiden Bereichen endlich eine Reihe von Leistungsverbesserungen im Interesse der Versicherten und der Verbesserung unseres Gesundheits- und Vorsorgesystems beschlossen. Die Ausgaben für diese zusätzlichen Leistungen der Zahnärzte und Optiker wurden für 2017 und 2018 auf insgesamt 12 Millionen beziehungsweise 25 Millionen Euro beziffert. So viel zur Theorie.
Denn in der Praxis konnten die Versicherten bis dato weitaus weniger von den geplanten Leistungsverbesserungen profitieren, als von offizieller Seite angekündigt wurde: Lediglich drei Millionen Euro statt der angekündigten 12 Millionen schlugen 2017 bei der CNS als Mehrausgaben zu Buche. Die Prognosen für 2018 sollen ebenfalls weit unter dem anvisierten Ziel bleiben: Nur neun der angekündigten 25 Millionen Euro werden wohl als Mehrausgaben erreicht werden. Das ist weitaus weniger als die von Sozialminister Romain Schneider (LSAP) propagierten Ziele. Eine allgemeine Entlastung bei den Arztkosten konnte nicht erreicht werden, geschweige eine bei den hohen Eigenbeteiligungen an Zahnarzt- und Optikerrechnungen.
Die Erklärung hierfür ist schnell gefunden. Die angekündigten Leistungsverbesserungen im zahnmedizinischen Bereich sind bis heute nicht von der zuständigen Nomenklaturkommission umgesetzt worden, und auch die geplante Modernisierung und Überarbeitung der Erstattungen für Brillengläser und Kontaktlinsen ist innerhalb der CNS nicht über eine Absichtserklärung hinausgekommen. Woran das liegt, darüber hüllte der Sozialminister sich auf der Frühjahrs-Quadripartite am 30. Mai 2018 in Schweigen, und so kann man nur mutmaßen, dass die rezenten Scharmützel zwischen Minister und Ärzteverband AMMD an dem Stillstand nicht ganz unschuldig sind. Auszuschließen ist ebenfalls nicht, dass die Funktionsweise der Nomenklaturkommission nicht mehr zeitgemäß ist.
Die längst überfällige Überarbeitung der bestehenden Nomenklaturen geht bisher nur schleppend voran, und so ist es kaum verwunderlich, dass auch die kürzlich beschlossenen Verbesserungen noch nicht umgesetzt wurden. Stellt sich die Frage, wie die regelmäßige Anpassung der künftigen, neuen Nomenklaturen an den neuesten Stand der Medizin bei derart gravierenden Problemen vollzogen werden soll. Eine Generalüberholung der Funktionsweise der zuständigen Kommission scheint demnach unumgänglich.
Zur Durchsetzung der beschlossenen Leistungsverbesserungen sind zudem ein starker politischer Wille und gleichzeitig Fingerspitzengefühl nötig, um für alle Partner passende Kompromisslösungen zu finden. Auch hier drückt der Schuh. Ein Negativbeispiel stellt die Herabsetzung der Erneuerungsfrist von Zahnprothesen dar. Bis Ende 2017 betrug sie 15 Jahre, Anfang dieses Jahres wurde die Frist auf 12 Jahre herabgesetzt. Und dies obwohl die Zahnärzte, unterstützt von den Gewerkschaften, eine Herabsetzung auf zehn Jahre gefordert hatten. Dass am Ende eine Kürzung um nur drei Jahre herauskam, liegt vor allem daran, dass der Arbeitgeberverband UEL, als Mitglied des CNS-Direktionskomitees, sich unter Berufung auf die in der Sozialgesetzgebung verankerte Maxime des „utile et nécessaire“ gegen weitere Neuausgaben wehrte und der Sozialminister in dieser Frage der UEL Folge leistete.
Sowohl die UEL als auch der Minister vergaßen in dieser Diskussion, dass die Gesundheitsreform 2011 den Versicherten eine Reihe Leistungsverschlechterungen aufbrummte und nur so die heute hohen Rücklagen der CNS möglich wurden. So wurde zum Beispiel die Eigenbeteiligung bei einem Arztbesuch von zehn auf 12 Prozent erhöht, Brillengestelle nur noch mit 30 Euro anstelle 40 Euro rückerstattet, und die Erstattung von Zahnarztleistungen – mit Ausnahme der Prothesen – von 95 auf 88 Prozent gesenkt. Diese Leistungsverschlechterungen sind noch heute in Kraft. Nun, da die Finanzlage der Krankenkasse gesundet ist, müssen auch eindeutige Leistungsverbesserungen im Interesse der Versicherten, allen voran bei den Zahnarzt- und Optikerkosten, umgesetzt werden.
Der von Regierungsseite zitierte Anspruch auf das „beste Gesundheitssystem der Welt“ kann aber nicht nur durch verbesserte Kostenerstattungen aufrechterhalten werden. Es bedarf auch der Abschaffung verwaltungstechnischer Hürden, einer Vereinfachung verschiedener Prozeduren und eines schnellen Zugangs zu Gesundheitsleistungen.
In diesem Sinne würde eine allgemeine direkte Leistungsabrechnung mit der Krankenkasse (Tiers payant généralisé) eine erhebliche Verbesserung für die Versicherten darstellen, dies sogar ohne Mehrkosten für die Gesundheitskasse. Bereits 2016 hatte der LCGB gefordert, den Tiers payant généralisé zum Bestandteil der Diskussionen rund um die Leistungsverbesserungen zu machen. Der zuständige Sozialminister redete sich mehrmals um Kopf und Kragen, indem er auf die Notwendigkeit einer gemeinsamen Analyse mit allen betroffenen Parteien, allen voran dem Ärzteverband AMMD, verwies. Doch Taten ließ er keine folgen.
Als Anfang 2018 im Parlament eine Online-Petition zum Tiers payant généralisé diskutiert wurde, mutierte der Sozialminister auf einmal zum flammenden Verfechter der allgemeinen direkten Leistungsabrechnung und kündigte dazu Verhandlungen mit der AMMD an. Dieses ministerielle Vorpreschen führte innerhalb kürzester Zeit dazu, dass die Beziehungen zwischen Minister und Ärzteschaft in Mitleidenschaft gezogen wurden. Der Minister brachte somit das Kunststück fertig, dass seit Frühjahr 2018 sowohl die Diskussion über den Tiers payant généralisé als auch die Umsetzung der ausstehenden Leistungsverbesserungen durch die Nomenklaturkommission auf Eis liegt. Die Leidtragenden dieser verfehlten Sozialpolitik sind allen voran die Versicherten.
Eine weitere viel diskutierte gesundheitspolitische Baustelle betrifft die Spitäler. Das dieses Jahr reformierte Krankenhausgesetz sieht zum Beispiel den vermehrten Einsatz ambulanter Eingriffe vor, insbesondere weil die Regierung sich dadurch eine Drosselung der Krankenhauskosten erhofft. Daran wäre nichts auszusetzen, sofern ambulante Eingriffe nur dann stattfinden würden, wenn sie auch im Interesse des Patienten sind. Die große Unbekannte, nämlich die medizinische Nachbehandlung zu Hause, ist bisher ungelöst. Denn weder das neue Krankenhausgesetz noch die rezente Reform der Pflegeversicherung setzen die notwendigen Rahmenbedingungen hierfür fest. Die Patienten bleiben nach einem ambulanten Eingriff auf sich gestellt. Ihre Belange sind aus dem Fokus der Verantwortlichen geraten. Die politisch gewollte Steigerung der ambulanten Versorgung wird so wohl nur eine Wunschvorstellung bleiben.
Ein weiteres Sorgenkind stellen Behandlungen im Ausland dar, da der Patient ohne vorherige Genehmigung der Auslandsüberweisung nicht in den Genuss einer Kostenrückerstattung kommt. Obwohl die Anträge im Allgemeinen problemlos genehmigt werden, kann es doch vorkommen, dass Anträge wegen Zustellproblemen zu spät bei der CNS eingehen und das entscheidende Genehmigungskriterium nicht mehr erfüllt ist. Die Konsequenz: Der Versicherte muss alle Kosten selbst tragen, es sei denn, er ist privat versichert.
Bemängelt werden muss aber auch, dass das Prozedere schwer verständlich ist, da es zwei Arten von Behandlungsgenehmigungen gibt. Die erste fußt auf EU-Verordnungen und erlaubt im Idealfall die direkte Kostenübernahme durch die CNS. Die zweite basiert hingegen auf einer EU-Richtlinie für grenzüberschreitende Gesundheitsleistungen und ermöglicht die Rückerstattung nach Luxemburger Bedingungen und Tarifen, nachdem der Patient die Kosten zunächst vorgestreckt hat. In diesem Paragrafendschungel hat der Versicherte schnell das Nachsehen und eine administrative Vereinfachung ist hier mehr als notwendig.
Weitere viel diskutierte Baustellen sind die Entlastung der Notfallaufnahmen sowie der schnelle und einfache Zugang zu bestimmten Untersuchungen, wie Scanner- oder IRM-Untersuchungen. In beiden Fällen hat die Regierung kürzlich die Problemlösung verkündet, während die neuen IRM-Geräte bis Sommer 2019 auf sich warten lassen werden, die Effizienzsteigerung der Notfallaufnahmen noch darüber hinaus. In beiden Fällen muss sich dann noch zeigen, ob die beschlossenen Maßnahmen auch zu den erhofften Verbesserungen führen oder weiter nachgebessert werden muss.
Trotz ausreichenden Finanzreserven geht die Modernisierung des Luxemburger Gesundheitssystems in den genannten Bereichen nur schleppend voran. Das „beste System der Welt“ entpuppt sich im Hinblick auf zukünftige Leistungsverbesserungen als Flickwerk von Baustellen. Da die Notwendigkeit der geforderten Leistungsverbesserungen für den LCGB jedoch außer Frage steht, muss die Politik diese Herausforderung in den kommenden Jahren weitaus proaktiver angehen als bisher.