Gesundheitsministerin Lydia Mutsch (LSAP) wurde kalt erwischt, als auf ihren Schreibtisch Rechnungen von Ärzten aus den beiden größten Entbindungsstationen – der CHL Maternité und der Bohler-Klinik – flatterten. 80 Euro pro Stunde verlangten Gynäkologen, Anästhesisten und Kinderärzte für ihren Präsenzdienst an den beiden Maternités; so viel, wie vor der Gründung des Rettungsdienstkorps CGDIS ein Anästhesist für die Teilnahme am Notarztdienst (Samu) erhielt. Ausgestellt wurden die Rechnungen ab 1. April, dem Tag, an dem das neue Krankenhausgesetz in Kraft trat, Lydia Mutschs wichtigstes Werk der Legislaturperiode. Das droht nun teurer zu werden als die 14 Millionen Euro im Jahr, von denen die Fiche financière zum Gesetzentwurf ausgegangen war, vielleicht sogar viel teurer.
Schon früher war für Ärzte bis zu einer bestimmten Altersgrenze die Teilnahme an den Not- und Bereitschaftsdiensten der Spitäler Pflicht, das schreibt das Gesetz über den Arztberuf vor. Das neue Krankenhausgesetz aber legt strafrechtlich nach: Jeder, der zuständig ist für die Organisation dieser Dienste, und jeder, der an ihnen teilnehmen muss, kann sogar mit bis zu sechs Monaten Gefängnis bestraft werden, wenn die Pflichten verletzt werden.
Gleichzeitig hat das Krankenhausgesetz neu definiert, in welchen Krankenhausbereichen Ärzte „präsent“ (vor Ort anwesend) beziehungsweise „in Bereitschaft“ (per Telefon erreichbar und innerhalb einer bestimmten Frist in der Klinik eintreffen) müssen. Für 16 Bereiche sind die Ansprüche besonders hoch, von der Herzchirurgie über Stroke Units zur Schlaganfall-Behandlung bis hin zu Intensivstationen und eben auch Entbindungsstationen.
Die Normen für die 16 Bereiche hatte das Gesundheitsministerium aus in Frankreich geltenden Bestimmungen übernommen. Aber offenbar wurde dabei vergessen, dass abgesehen von Privatkliniken die französischen Krankenhausärzte fest angestellt sind. Präsenz- und Bereitschaftsdienste sind Teil ihrer Arbeitszeitregelungen im Arbeitsvertrag. Dagegen sind die meisten Luxemburger Klinikmediziner freiberufliche Belegärzte und haben einen Dienstleistervertrag mit ihrem Spital. Ein ungeschriebenes Gesetz geht seit Jahrzehnten davon aus, dass die Teilnahme an Bereitschaftsdiensten eine Gegenleistung sei, die freiberufliche Ärzte dafür erbrächten, dass ihnen im Spital schwere Technik und paramedizinisches Personal kostenlos zur Verfügung steht – eine Ausnahme davon bildeten nur die Samu-Anästhesisten und die Urgentisten in den Notaufnahmen, denen der Dienst entgolten wird. Doch die EU-Rechtsprechung tendiert schon seit Jahren dahin, ärztlichen Bereitschaftsdienst als Arbeitszeit anzusehen, nach der überdies eine Ruhezeit gewährt werden müsse. So dass die Rechnungen aus den zwei großen Maternités nicht unbegründet sind.
Für dieses Jahr wird die CNS diese Rechnungen bezahlen, entschied der Vorstand der Kasse. Dabei geht es um einen Kostenpunkt von 4,2 Millionen Euro für die Entbindungsstationen von CHL und Bohler zusammengenommen. Aber schon sieht es so aus, als könnte es bei diesen Forderungen nicht bleiben. Sollten aus allen Klinikbereichen mit besonderen Ansprüchen an Präsenzen und Rufbereitschaften Entgeltforderungen erhoben werden, dann könnten nach vorsichtigen Schätzungen der CNS pro Jahr 50 bis 100 Millionen Euro an neuen Ausgaben auf sie zukommen, .
Doch nicht nur wären 100 Millionen Euro eine Menge Geld – so viel, als stiegen die Ausgaben der CNS für Arzthonorare von zuletzt insgesamt 450 Millionen Euro auf einmal um 22 Prozent. Es wäre obendrein nicht so einfach, den freiberuflichen Ärzten das Entgelt zukommen zu lassen. Von wenigen Leistungen abgesehen, können sämtliche Luxemburger Ärzte lediglich einen am Patient geleisteten Akt in Rechnung stellen. Dass sich an diesem Prinzip fee for service nichts ändern solle, war stets ein Anliegen des Ärzteverbands – ein derart wichtiges, dass sogar festangestellte Ärzte am CHL pro Akt abrechnen, die Einnahmen in einen Topf des Spitals fließen und anschließend als Gehälter umverteilt werden. Stundenlöhne für Präsenzen und womöglich auch für Bereitschaften wären dagegen ein Entgelt für eine Nicht-Aktivität am Patienten.
Das könnte politisch ziemlich weit reichende Implikationen haben. Einerseits würde es zu einem Pseudo-Salariat führen, dass das Belegarztprinzip an sich in Frage stellt. Zum anderen bestünde der vielleicht einfachste Weg, das Geld zur Verfügung zu stellen, darin, die Jahresbudgets der Spitäler um diese Beträge zu erhöhen. Dann aber wäre es weder an der CNS noch dem Staat, die betreffenden Ärzte zu bezahlen, sondern an den Krankenhäusern. Zum ersten Mal könnten dann Klinikdirektionen und Ärzte um Geld verhandeln – was bislang tunlichst vermieden wurde, um nicht den Eindruck zu vermittelt, der Arzt sei Unterstellter der Direktion.
Dass sich mit diesen neuen denkbaren Konstellationen erst die nächste Regierung zu befassen hätte, kann man nicht ohne weiteres sagen: Die aktuelle muss noch bis 1. Oktober festlegen, wie groß das Globalbudget 2019 und 2020 der CNS für sämtliche Spitäler ausfallen soll, dazu ist sie gesetzlich verpflichtet. Geht es um Zusatzkosten von zig Millionen Euro, käme sie kaum daran vorbei, sich vorzustellen, wohin der Spitalsektor sich kurzfristig entwickeln soll. Mitten im Wahlkampf ist das von den drei Koalitionspartnern nicht wenig verlangt. Zumal dann auch davon auszugehen wäre, dass die Überschüsse in der Krankenkasse rascher schrumpfen könnten als bisher angenommen. pf