Wer meint, es herrsche wieder Frieden zwischen dem Ärzteverband AMMD auf der einen Seite und der CNS und LSAP-Sozialminister Romain Schneider auf der anderen, der irrt. Nachdem beide Seiten sich im Mai in der Krankenkassen-Quadripartite trafen, zog Ruhe ein. Vergangene Woche aber legte die AMMD-Spitze im Leitartikel der neuesten Ausgabe ihres Verbandsorgans Le Corps médical nach: Die Ärzte und Zahnärzte fänden sich im aktuellen Gesundheitssystem „nicht mehr wieder“. Die CNS als Finanzier schränke die Therapiefreiheit der Ärzte ein, indem sie nur bezahle, was sie für „nützlich und notwendig“ halte. Der Minister habe sogar durch eine Gesetzesänderung die Kontrollen verschärft, während Patienten, die sich das zu leisten vermögen, im Ausland nachfragen könnten, was sie wollen, und dafür zumindest den Luxemburger Kassentarif erstattet erhielten. So dass „zwei Welten“ sich gegenüberstünden: hier die medizinische Praxis, dort die Finanzierung der Medizin.
Am gestrigen Donnerstagvormittag reagierte die CNS zum ersten Mal nach den monatelangen Anschuldigungen der AMMD mit einer Presseerklärung. Die Behauptung, die Kasse bremse den medizinischen Fortschritt, sei falsch. Die Kontrollen seien weder übertrieben, noch missbräuchlich, sondern angebracht in einem öffentlich finanzierten System. Für Verbesserungen des Leistungsumfangs sei die CNS „immer offen“ gewesen, auch für die Anpassung der Gebührenordnung. Der Ärzteverband aber sei gar nicht gewillt, „konstruktiv und in Verhandlungen voranzukommen“, nicht einmal in „technischen Fragen“. Es scheine der AMMD mehr darum zu gehen, „die Debatte zu politisieren und dafür zu sorgen, dass dabei immer mehr auf dem Spiel steht“ – in der Hoffnung, dass die nächste Regierung eher geneigt sei, ihrem „Lobbying“ nachzugeben.
Bemerkenswert an der Erklärung der CNS ist nicht nur ihre Unverblümtheit. Sondern auch, dass sie von den Gewerkschafts- und den Unternehmervertretern im Kassenvorstand verabschiedet wurde, wie einer Fußnote zum Text zu entnehmen ist. Demnach muss der CNS-Präsident als Staatsvertreter sich seiner Stimme enthalten haben, weil sein Minister die Erklärung nicht mittrug. Romain Schneider scheint es entweder vorzuziehen, den Konflikt auszusitzen, oder seine Partei nicht in Erklärungsnot bringen zu wollen, ehe der Wahlkampf voll eingesetzt hat.
Dass Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung zum Wahlkampfthema werden, ist allerdings wünschenswert – auch falls die Klagen des Ärzteverbands weniger berechtigt sind, als er sagt. Denn die Frage stellt sich, wie das sehr spezielle Luxemburger System weiterentwickelt werden soll. Dass es eine einzige große Krankenversicherung gibt, in die quasi alle einzahlen müssen, die aber im Gegenzug im Schnitt 95 Prozent aller Kosten rückerstattet und jedem Versicherten die gleichen Leistungen garantiert, gibt es auf der Welt so schnell nicht noch mal. Dass sogar per Gesetz den Patienten die freie Arztwahl garantiert ist und den Medizinern die Verschreibungsfreiheit, gibt es ebenfalls so schnell nicht noch mal. Die öffentliche Versorgung hierzulande ist nicht weit weg von dem, was anderswo nur die Privatmedizin bietet.
Doch im „besten System der Galaxis“, wie es der frühere LSAP-Minister Mars Di Bartolomeo gerne nannte, gibt es Widersprüche, für die unter anderem die Klagen der AMMD Ausdruck sind. Deshalb dürfen sie nicht ignoriert oder ausgesessen werden.
Eine Frage, die sich stellt, ist die nach der Regulierung dieses ziemlich einzigartigen Systems. Reguliert wird überall. Auch in den USA, wo die Versorgung eine weitgehend marktbasierte ist. Auch in Deutschland, wo ein „duales System“ aus öffentlicher und privater Krankenversicherung besteht und nicht nur eine Gebührenordnung für die Abrechnung mit den öffentlichen Kassen, sondern eine zweite für die Abrechnung mit Privatversicherungen. Kein Arzt kann dort aufschreiben, was er will.
Die Besonderheit in Luxemburg besteht aber darin, dass alle Ärzte automatisch und obligatorisch Kassenärzte sind, was unter anderem die Regulation erleichtern soll. Doch die allermeisten Mediziner sind Freiberufler, als Unternehmer sind sie logischerweise an Umsatz und Gewinn interessiert. Auch die allermeisten Krankenhausärzte sind Freiberufler, und wenn sie es nicht sind, wie im CHL, dann rechnen sie dennoch ihre Leistungen nach dem „Akt“ oder dem Prinzip fee for service ab.
Das hat verschiedene Konsequenzen. Etwa die, dass die AMMD als Berufsverband im Grunde immer Grund zur Klage haben kann, dass das System den Ärzten nicht genug Einkünfte biete. Anderereits, und dass ist für die Patienten entscheidender, honoriert das Akte-Prinzip den Arzt als den alleinigen Vertragspartner seines „Kunden“ Patient – dagegen so gut wie nicht als Teamarbeiter oder als Dienstleister an der öffentlichen Gesundheit über den bloßen Akt hinaus. Vor allem im Krankenhaus setzt dieses System falsche Anreize zum Geldverdienen und kann die Kosten für die Spitäler in die Höhe treiben: Denn es ist der Arzt, der verschreibt. Dabei aber besteht die Gefahr, dass das „beste System der Galaxis“ finanziell aus den Fugen gerät – falls nicht weiterhin viele junge Grenzpendler wesentlich mehr Kassenbeiträge zahlen, als an Rückerstattungen für sie fällig wird. Oder anlässlich der nächsten Wirtschaftskrise.
Apropos Spitäler: Viel zu viel an Versorgung werde ihnen übertragen, die Notafnahmen seien überfüllt, die IRM-Apparate mehr als ausgelastet und ein „virage ambulatoire“ müsse her, heißt es immer wieder. Die CSV-Fraktion meinte während der Debatten zum neuen Krankenhausgesetz und dem neuen Spitalplan, ein „Gesundheitsplan“ müsse her, der über das Klinikwesen hinausreichte. Zu den Besonderheiten des Luxemburger Systems zählt aber, dass es die nicht festangestellten Ärzte – und das sind die meisten – an die Krankenhäuser zu binden und damit eine Krankenhausversorgung sicherzustellen versucht, indem diesen Ärzten die schwere Krankenhaustechnik kostenlos zur Verfügung gestellt wird und das Pflegepersonal obendrein. Selbstverständlich ist das nicht: In Belgien, wo in den Kliniken ebenfalls viele freiberufliche Belegärzte tätig sind, geben diese 30 bis 60 Prozent ihrer Honorarmasse an ihre Klinik ab. Für Luxemburg heißt das: Die Versorgung von den Spitälern weg zu dezentralisieren, hätte komplexe Auswirkungen. Gäbe es dann zum Beispiel in allen Spitälern genug Ärzte der verschiedenen Fachrichtungen, um nicht nur einen reibungslosen Betrieb, sondern auch Bereitschaftsdienste zu garantieren?
Doch wenn der medizinische Fortschritt weitergeht, bis hin zur „personalisierten Medizin“, und wenn gleichzeitig die Einwohnerzahl im Land immer weiter wächst, dann kann der Frage, „wer macht was wo?“ nicht ausgewichen, dann muss die Versorgung dezentralisierter werden. Aller Erfahrung nach aber löst jedes neue Angebot eine hohe Nachfrage aus – was im ambulanten Bereich die Regulierung schwieriger macht als im stationären. Wie diese sehr spezielle „Staatsmedizin“, die in Wirklichkeit keine ist, weiter ausgestaltet werden soll, ist deshalb eine Frage, die in diesen Wahlkampf gehört. Andernfalls könnte es eines vielleicht nicht allzu fernen Tages eine staatlich garantierte Grundversorgung geben, zu der man sich privat hinzukaufen muss, was nötig ist.