Seit der Eröffnung der neuen Nationalbibliothek (BNL) am 1. Oktober 2019 strömt eine neue Kundschaft massiv in eine Bibliothek, die nicht dafür gedacht ist: Eltern mit Kindern. Diese neu eingeschriebenen Benutzer (ab dem 14. Lebensjahr möglich) zeigen sich jedoch recht schnell über den mickrigen Kinderliteraturbestand für ihre Sprösslinge enttäuscht. Womit diese hierzulande weit verbreitete Ignoranz dazu führt, dass der erste gleichzeitig der letzte Besuch war. Warum ist eine National- keine Volksbibliothek? Weil „Lernen zu Lesen“ vor „Lesen um zu Lernen“ kommt.
Wissensstand Hängt diese Unkenntnis etwa damit zusammen, dass ein falsch verstandener Familiensaal in den meisten Medien propagandistisch brav, jedoch übermäßig gepriesen wurde? Oder weil das Gebäude äußerlich aussieht wie eine Kopie der ebenfalls vom Architektenbüro Bolles-Wilson entworfenen Stadtbibliothek Helmond (NL)? Wenn sogar Tagesstättenpersonal mit riesigen Kinderwagen zur Nutzung eines für studierende Eltern gedachten Kinderspielzimmers auftaucht, stimmt etwas nicht. Die Benutzer wissen nicht, dass seit 1967 eine für sie geeignete Stadtbibliothek, die heutige Cité-Bibliothéik, mit großer Kinderabteilung in bester Stadtmittelage existiert.
Im Vergleich zu Pisa-Studien-Gewinnerländern kennt der Standard-Luxemburger den Unterschied zwischen einer National- und Stadtbibliothek, einer elitären staatlichen wissenschaftlichen und volksnahen nicht-staatlichen öffentlichen Bibliothek (ÖB), nicht. Daraus ergibt sich, dass auch die Mehrheit der von ihm gewählten Politiker Verständnisprobleme mit der Kategorienvielfalt von Bibliotheken hat. Bibliothek ist gleich Bibliothek, oder? Leider nein!
Stillstand 1969 Eine Tatsache überrascht allerdings immer wieder: Sogar die wenigen für Volksbibliotheken sich einsetzenden Volksvertreter haben eine recht veraltete Vorstellung von einer ÖB. Sie selbst mögen es lieber „traditionell“ bezeichnen, doch kennen sie die Gemeindebibliothek nur als mit Büchern zum Entleihen vollgestopften Raum. Längst überlebt, wie ein Bücherbus oder Bücherschrank. Jeder Ausbau solcher antiquierten Bücherpräsentationsformen wäre heutzutage schwachsinnig. Sie entsprechen bibliotheksentwicklungsmäßig dem Geisteszustand von 1969 (siehe Parlamentssitzung am 25. November 1969). Das war vor einem halben Jahrhundert!
Ende der 1960er Jahre begannen die privatwirtschaftlichen Leihbibliotheken zu schließen. Die Kundschaft blieb aus. Ähnlich erging es den nicht-kommerziellen Gewerkschaftsbibliotheken sowie den katholischen Pfarrbibliotheken. Ein jahrhundertaltes Bibliotheksmodell lohnte sich nicht mehr: einfach mit einer Büchersammlung auf Benutzer warten. Vielleicht verfügt das ganze Land wegen dieser traditionellen Sichtweise heute nur über sechs kommunale Bibliotheken? Vor 50 Jahren waren es fünf. Was für ein Fortschritt, nicht wahr?
Ab 1970 Spätestens die 1970er Jahre läuteten weltweit eine erste Reformwelle ein: Neben dem schwindenden Standbein der Ausleihe sollte die action culturelle als regelmäßiges Aktivitätsprogramm und fester Bestandteil jeder ÖB verhindern, dass aus Stadt- und Dorfbibliotheken Bücherfriedhöfe wurden. Insbesondere unsere südlichen Nachbarn erreichen seit den 1960er Jahren einen hohen Grad an Perfektion in Sachen Animation. Luxemburg brauchte ungefähr eine Generation (30 Jahre), um Anschluss an diese Entwicklung zu finden. Seit der Jahrhundertwende 1999/2000 ist eine gewisse Regelmäßigkeit festzustellen. Auch wenn sie mehrheitlich noch immer zaghaft auf kurze Events, überwiegend Autorenlesungen, begrenzt ist. Programmarbeit ist allerdings mehr als das. Der erste hierzulande speziell für Leseförderungsaktivitäten eingestellte Erzieher in einer ÖB nahm am 01. April 2009 (!) seine Arbeit in der Cité-Bibliothéik auf.
Ab 2000 Im Zeitraum 2003 bis 2006 erlebte das Land zwischenzeitlich die flächendeckende Gründung von circa 75 Internetstuffen als „centres locaux d‘apprentissage“ (so ministerielle Jahresberichte) über eine staatliche Anschubfinanzierung von 15 000 Euro pro Stuff. Internetführscheine benötigte das Land! Doch wo sind diese télécentres heute alle hin? Im Ausland wurde das Geld in Internet-Abteilungen von ÖBs investiert. Eine vielleicht schlauere und nachhaltige Förderungsart, denn Bibliotheken haben diese kurzfristige Technologieoffensive überlebt. Ab 2000 ist bei sogenannten Mediatheken, das heißt bei Bibliotheksabteilungen, die auf audiovisuelle Medien (Musik- und Videokassetten, danach CDs und DVDs) spezialisiert sind, international ein von Jahr zu Jahr fortschreitender Rückgang der Ausleihen zu verzeichnen. Dieses Ausleihmodell, ähnlich wie bei Büchern, das seit 1992 in der BNL (siehe auch d‘Land 10/2020) und in ausländischen Kulturinstitutsbibliotheken in Luxemburg-Stadt existiert hat, wird weiter an Bedeutung verlieren. Wo sind die aus dem Stadtbild verschwundenen gewerblichen Videotheken wohl hin?
Ab 2010 Während im Luxemburger Ländle weiterhin von reinen Entlehnungsanstalten geträumt wird, folgte ab 2010 bereits eine zweite interkontinentale Weiterentwicklung: Stadtbibliotheken (zum Beispiel Puzzle in Thionville) entwickeln sich zu flexiblen Kultur- und Veranstaltungsorten mit einem breiten digitalen Angebot: Events, Reparatur-Café, Maker Spaces, Tonstudios, interaktive Spielecken … sowie mit einem noch immer existierenden, jedoch deutlich geringerem Print-Bücherbestand. Die Ausrichtung auf einen Entertainment-Tempel mit Bücherdekoration oder auf einen flexiblen Dienstleister, je nach eigener Sichtweise, gefällt nicht jedem und widerspricht doch zu sehr der Luxemburger Tradition, dem geliebten Bücherborgautomaten.
Manche der Nahe-dem-Volk-Bibliotheken suchten, betreffend ihre Inneneinrichtung, spezifisch kommunale oder regionale Identifikationsmerkmale. So finden immer öfter museale Objekte Eingang in die Bibliotheksräume. Im Jahre 2010 wurden beispielsweise in der dänischen Hafenstadt Helsingør Schifffahrtsutensilien aller Art in eine Bibliothekszweigstelle miteingebaut, sowie spezielle Möbel (etwa ein Mini-U-Boot als Lesekabine) angefertigt. So gesehen, könnte eine Ettelbrécker Bibliothéik einen antiken Pflug beherbergen oder eine eventuelle Neugründung in Schifflingen in einer ehemaligen Industriehalle (wie in der LocHal Bibliotheek in Tilburg) bewerkstelligt werden.
Dorflebensbereicherung Interessanter ist ein bis jetzt noch seltener Bonuspunkt dieser zweiten Fortentwicklung: In Großstadtbibliotheken werden zwecks Kostenminderung Aufgaben der Kommunalverwaltung integriert. Beim Avantgarde-Modell Dokk1 in Aarhus befinden sich im Eingangsbereich Schalter, an denen der Bürger gängige Verwaltungsgänge vollziehen – und danach im gleichen Gebäude mehrere verschiedene Bibliotheksdienstleistungen in Anspruch nehmen kann.
Deklinieren wir diese Herangehensweise auf Zwergstaaten wie Luxemburg herunter, so könnten kleine Stadt- oder Dorfbibliotheken verschiedene Bürgerservices übernehmen. Mit dem Argument, dass ÖBs Dienstleistungen einer Gemeindeverwaltung, insbesondere in kleinen Kommunen, zu Tageszeiten mitanbieten können, wenn die Verwaltungen zum Beispiel geschlossen oder überlastet sind (Schleiwies, 2011).
Analoge Beispiele sind: Touristikinformation (Ausgabe von Informationsmaterial, Verkauf von Lokalprodukten, Souvenirs, kommunale Publikationen); Verteilung von Abfall-Säcken; Ausgabe von vorbestellten Bescheinigungen, Formularen und Anträgen, falls ein Bürger seinen Ausweis oder Pass nur am Samstag abholen kann; Fundbüro; Kartenverkauf für Events und ähnliches. Digitale Dienstleistungen spielen auch eine Rolle, Stichwort E-Government. Je mehr öffentliche Dienste nur noch digital angeboten werden sollen, umso mehr spielt die Digital inclusion, beziehungsweise Computer literacy (also die Fähigkeit mit einem PC umzugehen) eine Rolle. Wenn selbst in den rückständigsten Gebieten Irlands eine small and rural library als citizens advice bureau der Ortsbevölkerung beim Ausfüllen von Formularen oder gar beim Schreiben von Anträgen hilft, warum sollte das nicht beispielsweise auch im Ösling möglich sein?
Frequenz und Nähe Ortszentren mit Leben füllen! In Bayern beispielsweise investiert das Land bewusst vermehrt in frequenzbringende Dorfbibliotheken, nachdem Lebensmittelgeschäfte, Kneipen, Postschalter und Ärzte als soziale Treffpunkte verschwinden. Hierzulande kann man wohl die Kirche hinzuzählen. Dies heißt: Der Verödung der ländlichen Gebiete entgegenwirken, mit Bibliotheken mit Dorfbrunnenfunktion, das heißt mit Bürgerservices, Café-Ecke und so weiter im Ortsmittelpunkt, in der Regel neben Rathaus, Schule und Kapelle. Betonen wir: Eine Dorfbibliothek ist doch mehr als eine Bäckerei mit Bücherschrank!
Zum Aspekt „Proximité“ ermittelte 2015 die französische Inspection générale des bibliothèques (Rapport n° 2015-033), dass eine Fahrtzeit von mehr als 15 Minuten in jedem möglichen Verkehrsmittel von Besuchen abschreckt. Andere Länder kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Das erklärt zum Teil auch die Unbeliebtheit und den Misserfolg von interkommunalen oder so genannten Regionalbibliotheken im In- und Ausland.
Wie weiter? Rückständigkeit im Bibliothekswesen stellt ein Programmmerkmal aller Luxemburger Parteien dar. Offenbar wird das traditionelle Verständnis vom Bibliothekswesen (vor 1970), das heißt, der Bibliothek prioritär als Bücherausleihapparat, bei der Lektüre der Wahlprogramme aller Parteien im Wahljahr 2018 oder der des Gesetzes vom 24. Juni 2010, des demokratiefeindlichsten Bibliotheksgesetzes der EU (d’Land, 14/2018). Bei dem Abschnitt über die Bibliotheken im Regierungsprogramm 2018-2023 (S. 89) handelt es sich übrigens um eine fast identische Kopie des DP-Wahlprogramms 2018 (S. 48). Der Unterschied besteht allerdings darin, dass das Koalitionsabkommen immerhin die Förderung von „activités culturelles et sociétales“ in Bibliotheken allgemein (!) vorsieht. Richtigerweise müssten Investitionen in die lokale Volksbibliothek fließen.
Es hat sich mental seit 1969 auf höchster Ebene wenig geändert. Oftmals offenkundig improvisierte und nostalgisch veranlagte Ansprachen von Kulturministern jeder politischen Couleur seit Anfang dieses Jahrhunderts belegen dies. Ein schönes Beispiel war die leidenschaftliche Rede eines belesenen Kulturministers bei der Einweihung einer mittlerweile begrabenen Mamer Mediathéik am 27. Mai 2005. Der Minister erzählte von seinen Lektüreerlebnissen aus Kindertagen in einer Escher Pfarrbibliothek. Dumm nur, dass die bereits Jahrzehnte zuvor das Zeitliche gesegnet hatte. Die ÖB ist und bleibt in den Köpfen ein Raum mit netter Bücherwanddekoration.
Fazit Möchte unsere Nation der ewigen Nachzügler den internationalen Anschluss dennoch nicht verpassen, so müsste sich nicht nur der Transformationsprozess der puren Ausleih- (vor 1970) zur erweiterten Programmbibliothek (ab 1970) endlich vollständig vollziehen, sondern sich die zweite Entwicklungsphase (ab 2010) mit Bonuspunkt ebenfalls dazugesellen. Mit der landesüblichen Verspätung, von mindestens einer Generation, wird der Autor Ihnen, liebe Land-Leser, vermutlich im Jahre 2040 von dieser 2010er „neuartigen“ Fortschrittsetappe in einer Luxemburger ÖB ausführlich berichten können. Die nationale Bibliothekspolitik bittet Sie nur noch um mindestens ein Fünftel-Jahrhundert Geduld.