Als der französische Präsident Emmanuel Macron am Montag eine Erklärung zur Coronavirus-Krise abgab, kündigte er unter anderem an, ab 11. Mai werde eine Smartphone-App zur Verfügung stehen, die das „Contact Tracing“ positiv auf das Virus Getesteter erlaubt. In den Wochen bis dahin, so Macron, solle das Parlament darüber diskutieren. Als die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidenten der Bundesländer am Mittwoch ein Maßnahmenpaket zur schrittweisen Aufhebung des Lockdown beschlossen, sprachen auch sie sich für ein „Tracing per App auf freiwilliger Basis“ aus.
In Luxemburg ist die Lage bemerkenswerterweise eine andere. Vor zwei Wochen erklärte Premier Xavier Bettel (DP), „dass eine App mir sagt, pass auf, da kommt ein Corona-Infizierter, das will ich lieber nicht“. Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) ging vor einer Woche im Land-Interview noch viel weiter: Sie hält eine „Tracking-App“ für „besonders gefährlich in Bezug auf Persönlichkeitsrechte und Privatsphäre. Und das sehen auch alle anderen Regierungsmitglieder so. Die Länder, in denen mit dieser Überwachungssoftware auf dem Smartphone gearbeitet wird, haben eine andere Auffassung von Demokratie und Freiheit als wir. Ich kann mir nicht vorstellen, diesen Weg einzuschlagen“ (d’Land, 10. April 2020).
Allerdings hatte zwei Tage zuvor die EU-Kommission sich in einer Empfehlung für einen „pan-europäischen Ansatz für die Nutzung digitaler Technologien zur Eindämmung des Ausbruchs“ von Sars-Cov-2 ausgesprochen. Muss man daraus Schlussfolgerungen über die Auffassungen von Demokratie und Freiheit innerhalb der EU ziehen?
Auch in Luxemburg weisen Wissenschaftler seit Wochen darauf hin, dass ein Weg aus dem Lockdown nicht zu haben sei ohne intensivierte Analyse der Corona-Patienten sowie der Personen, die mit Infizierten Kontakt hatten. Die Argumentation geht ungefähr so: Ist die Fallkurve einmal abgeflacht, der Druck auf die Krankenhäuser und ihre Intensivstationen schwächer, müsse man zurück zu dem, was zu Beginn des Ausbruchs galt: Die Kontakte von Corona-Patienten ermitteln, sie testen, bei positivem Befund isolieren und, falls nötig, behandeln. Das müsse aber eine stärker „lokale“ Betrachtung sein sowie eine nach Berufsgrguppen, meinte der Virologe Claude P. Muller. Er schlug vor drei Wochen eine landesweite „Covid-19-Kartografie“ vor, um „gezielter intervenieren“ zu können; sei es auf Gemeindeebene oder in den Betrieben besonders betroffener Branchen. Muller sprach sich auch dafür aus, dass jeder ein „Corona-Tagebuch“ führen und täglich seine Kontakte protokollieren solle (d’Land, 27.03.2020).
Wenn man so will, sind die Ideen Mullers, der 25 Jahre lang ein Referenzlabor der Weltgesundheitsorganisation am Laboratoire national de santé leitete und Virus-Epidemien in Afrika und Asien erforschte, die analoge Variante dessen, was im heutigen digitalen Zeitalter Tracing-Apps zugeschrieben wird. Wobei regelmäßig die Zusatzbemerkung fällt, mit Hilfe der Apps gelinge das lückenloser und schneller, in Echtzeit quasi. In Deutschland hielt der Virologe Christian Drosten, Chefarzt an der Berliner Universitätsklinik Charité, der wegen seiner öffentlichen Auftritte beinah zu einem Corona-Rockstar avanciert ist, vor einer Woche ein dringendes Plädoyer für solche Apps: Vorsichtigen Schätzungen nach bleibt jeder vierte Covid-19-Infizierte ohne Symptome. Wer Symptome entwickelt, ist schon am Tag ehe sie sich zeigen, sehr ansteckend und bleibt es weitere zwei Tage lang in hohem Maße. „Das ganze geht tatsächlich in diesem präsymptomatischen Bereich so schnell voran, dass zu Beginn meiner Erkrankung fast schon die übernächste Generation wieder neu gestartet wird“, erklärte Drosten am 8. April in seinem Coronavirus-Podcast im Norddeutschen Rundfunk. Angesichts dieser Realität sei eine Fallverfolgung nötig, „die nicht mehr einfach durchs Gesundheitsamt am Telefon zu bewältigen ist“.
Solche Wissenschaftler-Rufe nach Tracing-Apps sind in Luxemburg ebenfalls zu vernehmen, aber weniger nachdrücklich. Vergangenen Sonntag war Claude P. Muller gemeinsam mit Ulf Nehrbass in einer Background-Sendung im RTL-Radio zu Gast. Nehrbass ist Generaldirektor des Luxembourg Institute of Health (LIH) und Sprecher der Anfang April eingerichteten Wissenschaftler-Taskforce, die einerseits über die Pandemie forschen, andererseits der Regierung mit Expertisen bei politischen Entscheidungen behilflich sein soll. Muller erläuterte dort, wie wichtig es für den „Rollback der geltenden Einschränkungen“ sei, zu wissen, „wer sich wo unter welchen Bedingungen angesteckt hat“. Nehrbass erklärte, „die Kontakte nachzuvollziehen, ist essenziell für eine Exit-Strategie“. Explizit auf die Apps zu sprechen kam die Sendung nicht. Kurz vor ihrem Ende brachte Nehrbass das Thema aber auf: „Ein Contact Tracing über Apps wollen wir auch haben.“
Digitale Fallverfolgung gibt es in verschiedenen Ländern schon. Manchmal liegt der Akzent auf Verfolgung: In Polen erfasst die Polizei per GPS den Handy-Standort daheim isolierter Covid-Patienten und kontrolliert, ob sie zuhause sind. Bekannter geworden sind die in Südkorea und Singapur genutzten Instrumente, berüchtigt auch: Beispielsweise schrieb der Spiegel vergangene Woche, es sei nicht sicher, dass die App TraceTogether, mit der die Regierung von Singapur Kontaktketten von Coronavirus-Infizierten unterbrechen will, keine Standortdaten sammelt. Der Artikel berief sich auf eine Analyse der Pariser Cyber-Sicherheitsfirma Defensive Lab Agency. Vielleicht waren es Meldungen wie diese, die Paulette Lenert zum Ländervergleich der Auffassungen von Freiheit und Demokratie veranlassten.
In der EU besteht ein Konsortium, dem an die 130 Universitäten, Forschungszentren, Firmen und Verwaltungen aus acht Ländern angehören, von der Katholischen Universität Louvain über das Mobilfunkunternehmen Vodafone bis hin zur deutschen Seuchenschutzbehörde, dem Robert-Koch-Institut. Das Konsortium trägt den langen Namen „Pan-European Privacy-Preserving Proximity Tracing“ (Pepp-PT). Es will Standards und Technologien zur Verfügung stellen, die eine „grenzübergreifende Verfolgung von Infektionsketten ermöglichen“, steht auf der Homepage pepp-pt.org zu lesen. Und es wird betont, was man entwickle, sei im Einklang mit den EU-Vorschriften zum Schutz von Daten und Privatsphäre.
Der Protoyp eines Standards wurde unlängst in Berlin getestet. Benutzt wird nicht GPS, sondern der Funkstandard Bluetooth Low Energy. Während bisher eine Gesundheitsbehörde dafür sorgt, Kontaktpersonen zu erreichen, an die ein Covid-Infizierter sich erinnert, würde das die Tracing-App übernehmen. Sie hat zuvor verschlüsselt und nur lokal auf dem Handy eine Liste sämtlicher anderen Handys gespeichert, die mindestens 15 Minuten lang weniger als zwei Meter voneinander entfernt waren. Wird einer der beteiligten Handy-Nutzer positiv getestet und gibt das in seine App ein, benachrichtigt die alle Handy-Nutzer auf der Liste, sich vielleicht auf Covid-19 testen zu lassen.
Noch ist der Standard nicht fertig; was Datenschützer dazu sagen werden, bleibt abzuwarten. Hervé Wolff zum Beispiel ist skeptisch. Der auf Datenschutz und digitale Persönlichkeitsrechte spezialisierte Luxemburger Anwalt fragt sich, wie dafür gesorgt werden soll, dass die im Netzwerk Alarmierten nicht doch identifizierbar sind, immerhin ist Covid-19 eine meldepflichtige Erkrankung. Für problematisch hält er die Behauptung, die Nutzung so einer App sei freiwillig: „Epidemiologen sagen, mindestens 50 Prozent der Bevölkerung müssten sie auf ihrem Smartphone installieren, sonst bringe das nichts. Aber wo bliebe die Freiwilligkeit, wenn an die Leute appelliert würde, sich anzuschließen, und sie das aus schlechtem Gewissen tun?“ Dass eine Kluft entsteht zwischen Leuten mit und ohne Smartphone, wobei Letztere vor allem Ältere und sozial Schwächere – und damit ausgerechnet „Vulnerable“ umfassen dürfte, müsse man ebenfalls bedenken. Und dass ein Präzedenzfall geschaffen werden könnte: Gesundheits-Überwachung könnte allgemein akzeptabel wären. „9/11 führte dazu, dass die Terrorismus-Definition Einzug ins Strafrecht hielt, auch in Luxemburg. Wer sagt denn, dass durch Covid-19 nicht Ähnliches geschieht, auch wenn wir uns das noch nicht vorstellen können?“
Letzten Endes seien das politische Fragen, und die Gesellschaft müsse sie diskutieren, sagt Rudi Balling, der Direktor des Luxembourg Centre for Systems Biomedicine. Der LCSB-Chef ist Mitglied der Forschungs-Taskforce. Bis 2009, ehe er nach Luxemburg kam, war er wissenschaftlicher Geschäftsführer des Helmholtz-Forschungszentrums für Infektionskrankheiten in Braunschweig. Balling ist überzeugt: „Wenn wir in Luxemburg in der jetzigen Phase eine Rückverfolgung von Kontakten mit Zeitverzug machen und mit Unschärfen, weil ein Infizierter sich nicht an alles erinnert, dann halten wir eine zweite Welle nicht nieder.“ Das klassische Tracing reiche nicht bei der Zahl der Fälle. „Ich sehe zu einem digitalen Verfahren keine Alternative.“ Die Frage, inwiefern die Teilnahme daran tatsächlich freiwillig wäre, hält auch Balling für einen wichtigen Punkt. „Ein großer Teil der Bevölkerung ist verunsichert und erwartet eine nicht-alarmistische Beratung. Man muss über eine solche App gut kommunizieren, da stehen auch die Wissenschaftler in der Verantwortung.“ Entscheiden müsse natürlich die Politik.
Die Regierung scheint nicht mehr so vehement dagegen zu sein, wie die Gesundheitsministerin vor einer Woche verstanden werden konnte. Auf dem Pressebriefing nach dem Regierungsrat am Mittwoch äußerte Premier Bettel zwar erneut Bedenken. Er erklärte, es seien „noch zu viele Fragen offen“, und „solange gebe ich als Digitalisierungs- und Kommunikationsminister kein grünes Licht“. Am Ende schloss er jedoch nicht aus, dass Luxemburg sich beteiligt, „wenn die EU etwas hat“.
Anwalt Hervé Wolff bemerkt dazu, dass es für die Mitgliedstaaten wohl keine Verpflichtung gebe, sich einer EU-Lösung anzuschließen. „Ich halte diese Angelegenheit für national, damit wäre das eine politische Frage.“ Und vielleicht stellt die sich für die Regierung auch deshalb so kritisch, weil sie verhindern will, dass in dem kleinen Land über Apps einer vom anderen zuviel erfährt und das ungute Folgen haben könnte. Angst haben die Leute ohnehin schon. Wenn laut Umfragen gut 80 Prozent der Bevölkerung es normal finden, andere anzuschwärzen, weil sie gegen Lockdown-Vorschriften verstoßen, tun Abgründe sich auf.