Wer dieser Tage bei der Caisse nationale de santé anrief und in der Warteschleife landete, erfuhr in fünf Sprachen, dass sie derzeit mit den Rückzahlungen ringt. Unter Umständen können sie sechs bis acht Wochen dauern. Dagegen teilte die automatische Stimme nicht mit, dass ab Februar oder März ein Remboursement accéléré auf digitaler Basis funktionieren soll. „Wir stellen das noch nicht so ins Fenster“, sagt CNS-Präsident Christian Oberlé. Für den Februar aber sei eine Informationskampagne geplant. Die wird dann auch erklären, dass eine beschleunigte Kostenrückerstattung nur erhalten kann, wer ein Smartphone besitzt, das einen QR-Code zu scannen vermag.
Dass die CNS für die bevorstehende Innovation noch keine Reklame macht, hat technische, aber auch politische Hintergründe. Technische, weil die Neuerung nur eine Vorstufe für ein Paiement immédiat direct sein soll, das aber erst für 2023 vorgesehen ist.
Politisch sind die Hintergründe, weil das digitale Bezahlen Teil einer viel größeren Initiative für das gesamte Gesundheitswesen ist: Seit 15 Jahren gibt es Pläne für eine Plattform, auf der bestimmte Patienteninformationen abrufbar wären, aber auch ärztliche Verschreibungen, Krankenscheine und Labordaten. Und Abrechnungen. Dazu müssen CNS, Arztpraxen, Spitäler, Labors und Apotheken entsprechend ausgestattet und miteinander vernetzt werden. Die gesetzliche Basis dafür wurde vor zehn Jahren in der Gesundheitsreform gelegt. Aber obwohl anschließend die Agentur eSanté entstand und an der technischen Umsetzung der Plattform zu arbeiten begann, ist das Dossier de soins partagé für die Patient/innen die einzige konkrete Neuerung. Und auch das DSP wurde erst Anfang dieses Jahres endlich offiziell und im Frühjahr begann die Freischaltung der digitalen Dossiers.
Dass abgesehen davon nicht viel geschah, lag unter anderem daran, dass CNS und Ärzteverband AMMD sich 2014 nicht über den Datenfluss zwischen Arztpraxen und Kasse einig wurden. In monatelangen Verhandlungen über eine neue Konvention für die Ärzte und Zahnärzte mit der Kasse bestand die AMMD auf einer Paketlösung, die mehr Digitalisierung auch mit mehr Privatmedizin verbunden hätte; es ging um Zusatzleistungen und Zuschläge. Weil das keine Frage für einen Vertrag zwischen Sozialpartnern sein kann, war das Scheitern der Verhandlungen programmiert. Um die Digitalisierung wurde es ruhig.
Bis kurz vor Jahresende 2017 eine E-Petition in der Abgeordnetenkammer eingereicht wurde, die die Einführung des allgemeinen Drittzahlerprinzips, des Tiers payant généralisé, verlangte: Für Arztleistungen sollten die Patient/innen die Kosten nicht mehr vorstrecken müssen, sondern nur den Eigenanteil bezahlen. Die Petition erhielt derart viele Unterschriften, dass sie Ende Februar 2018 nicht nur öffentlich diskutiert werden musste, sondern im Wahljahr keine Partei an dem Thema vorbeikam. Doch von den großen Parteien versprach nur die LSAP in ihrem Wahlprogramm die Einführung des allgemeinen Drittzahlers. Ins Koalitionsprogramm gelangte er nicht. Dort steht stattdessen: „Un système électronique sera mis en place qui permettra un remboursement immédiat pour tous les assurés des frais des soins par la CNS.“
LSAP-Sozialminister Romain Schneider erzählte auf der Krankenkassen-Quadripartite vor einem Jahr noch, ein Tiers payant de nouvelle génération werde eigeführt. Am 6. Oktober dieses Jahres sprach er nur noch von „einer Art Tiers payant“, an dem die CNS arbeite. Er enthält die Idee, die gleich nach der Petitionsdebatte DP und AMMD als Alternative ins Spiel brachten: Die Digitalisierung könne den allgemeinen Drittzahler überflüssig machen (d’Land, 2.3.2018). Ein erster Teil davon soll demnächst Realität werden.
Funktionieren soll er so: Die Patient/innen bezahlen ihre Arztrechnung wie bisher, erhalten aber anschließend einen QR-Code ausgedruckt. Der wird mit einem Smartphone eingescannt und enthält die Rechnung. Das Smartphone leitet den Code an die CNS weiter, was die Rückerstattung auslöst. Die geht dann schneller, das ist das Remboursement accéléré.
Das Paiement immédiat direct hingegen soll erst 2023 möglich sein, rechtzeitig vor den nächsten Wahlen also. CNS-Präsident Oberlé erläutert das Prinzip: „Der Arzt gibt in sein Computer-Terminal ein, was er am Patienten geleistet hat. Diese Informationen werden an einen Regelmotor bei der CNS weitergeleitet. Der Regelmotor macht daraus einen Vorschlag für eine Rechnung und leitet ihn dem Arzt zu. Akzeptiert der Arzt den Vorschlag, wird die Rechnung in einen QR-Code gefasst, den der Patient vor Ort mit seinem Smartphone einscannt und daraufhin die Rechnung sieht. Akzeptiert auch der Patient die Rechnung, akzeptiert er implizit, was der Arzt geleistet hat. Dann löst der Patient den Bezahlvorgang aus. Der Arzt erhält von der CNS den Kassenanteil an den Behandlungskosten überwiesen, der Patient bezahlt nur seine Eigenbeteiligung.“ Christian Oberlé unterstreicht: Tiers payant bedeute, dass der Patient nichts vorstrecken müsse. „Das muss er hier auch nicht.“
Die digitale Bezahlung per App ist offenbar überzeugend genug, dass auch der OGBL sie akzeptiert hat. Seit der Krankenkassenreform vor dreißig Jahren trat die Gewerkschaft ungebrochen für den Tiers payant généralisé ein. Die LSAP zog sie dabei mit. Heute sagt Carlos Pereira, Mitglied der OGBL-Exekutive und einer der Salariatsvertreter im CNS-Verwaltungsrat: „Wenn der Pa-
tient über seine Eigenbeteiligung hinaus nichts bezahlen muss, dann ist mir egal, welchen Namen die Lösung hat.“ Pereira schränkt aber ein: „Es sind noch ein paar Dinge unklar, was das Paiement immédiat direct angeht.“
Vielleicht lassen sie sich klären, denn seit September verhandeln CNS und AMMD über einen Zusatz zur Konvention der Ärzte und Zahnärzte mit der Kasse, der die Digitalisierung betrifft. Dass der gemeinsame Nenner digitales Bezahlen gefunden wurde, hat die Blockade aufgelöst, mit der die AMMD seit 2014 alle weiter reichenden Gespräche über die Digitalisierung unterbunden hatte.
Doch das Paiement immédiat direct ist nicht mit dem Tiers payant généralisé zu verwechseln; da hat der Sozialminister schon recht. Einerseits, weil das digitale Bezahlen freiwillig sein soll. Sowohl der Arzt als auch der Patient soll es ablehnen dürfen; in dem Fall würde die Rechnung bezahlt wie gehabt. Andererseits ist es keine Kleinigkeit, wenn der Patient „implizit akzeptiert, was der Arzt geleistet hat“. Denn wie das Regelwerk der Krankenversicherung zurzeit beschaffen ist, lehnt die Kasse Rechnungen, die nicht korrekt sind, ab, wenn sie ihr im Rahmen des Tiers payant zugegangen sind – in bestimmten Bereichen gilt der Drittzahler ja. Strecken Patient/innen die Bezahlung einer Rechnung vor und mit ihr stimmt etwas nicht, stehen sie dagegen vor der schwierigen Herausforderung, gegen den Arzt vorzugehen. Würde „implizite“ Akzeptanz durch die Patient/innen, ehe sie den Okay-Knopf auf dem Smartphone drücken, heißen, dass sie die ganze Verantwortung für die Richtigkeit der Rechnung übernehmen?
„Das kann natürlich nicht sein, unter anderem darüber diskutieren wir intensiv“, sagt Christophe Knebeler, stellvertretender LCGB-Generalsekretär und ebenfalls Mitglied im CNS-Verwaltungsrat. Eigentlich soll der „Regelmotor“ verhindern, dass Klagen kommen könnten: Er soll sämtliche Tarife, Rückerstattungsbedingungen und was sonst noch in den Gebührenordnungen oder den Statuten der CNS steht, enthalten. „Tausende“ Regeln seien das, sagt der CNS-Präsident. Am Regelmotor werde schon seit anderthalb Jahren gearbeitet, und dass das so aufwändig ist, sei ein weentlicher Grund, weshalb das Paiement immédiat direct erst 2023 zu erwarten ist.
Wie die Neuerung auch Patient/innen, die kein Smartphone haben, etwas bringen soll, sei eine andere Frage, ergänzt Carlos Pereira. Die Gewerkschaften scheinen sie verschieden zu sehen: Christophe Knebeler glaubt, „jeder“ habe mittlerweile ein Smartphone. Carlos Pereira dagegen erklärt, er kenne nicht nur Insassen von Altersheimen, sondern auch Bauarbeiter, die keines haben. Objektive Bewertungen sind schwierig: Daten zur Verbreitung von Smartphones gebe es nicht, antwortet das Statistikinstitut Statec auf Anfrage, schon gar nicht je nach Alters- und Berufsgruppe.
Andere Fragen, die die neue Bezahlmethode mit sich bringen, sind viel politischer. Dass die AMMD unmittelbar an die kurze Diskussion der Drittzahler-Petition eine Kampagne gegen die CNS startete, weil die als „Monopolistin“ unter den Krankenversicherern den Patient/innen lediglich „Staatsmedizin“ bieten könne, erhält im Rückblick Sinn: Der Unterschied zwischen dem Drittzahlerprinzip und dem der Rückerstattung, bei dem die Patient/innen die komplette Kostenübernahme vorstrecken, besteht eben darin, dass bei Ersterem eine öffentliche Krankenversicherung nur für das zahlt, was Ärzt/innen dem öffentlichen Leistungskatalog entnehmen können. Das Rückerstattungsprinzip auf eine eingeschickte Rechnung hin dagegen ist bei Privatversicherungen üblich, die nicht unbedingt alles tragen, was auf einer Rechnung steht. Der Tiers payant ist bei Privatversichern die Ausnahme, etwa bei Klinikbehandlungen. Wie in Luxemburg, wo die CNS einen Leistungsumfang bietet, der OECD-weit der größte aller öffentlichen Kassen ist.
Wenn die AMMD dafür eintritt, Zusatzleistungen, für die die CNS nicht zahlt, anzuerkennen und auf der Arztrechnung zu vermerken, geht es auch um Abrechnungsfreiheit. Noch lässt das Krankenkassengesetz dergleichen nicht zu. Carlos Pereira vom OGBL aber findet, den digital erstellten Rechnungen müsse „in aller Transparenz“ zu entnehmen sein, wenn Zusatzleistungen erbracht wurden. Heute werden sie oft als convenances personnelles deklariert. Dass dieser Wunsch aus dem OGBL geäußert wird, ist bemerkenswert. Früher hätte die Gewerkschaft das als Einstieg in die Zweiklassenmedizin abgelehnt. Doch Zusatzleistungen werden gegeben; das ist Fakt. Was genau mit der „Transparenz“ verbunden wird, ist die politische Frage nach dem Perimeter der Sozialversicherung.
Vielleicht wird sie am Gesundheitstisch gestellt, der seit drei Monaten in fünf Arbeitsgruppen tagt. Was dort an „Neuerungen“ diskutiert wird, wird vor allem die LSAP herausfordern, die den Sozialminister stellt sowie die Gesundheitsministerin, die auch delegierte Sozialministerin ist. Als die CNS im Oktober ihre Digitalisierungskonzepte zwei parlamentarischen Ausschüssen vorstellte, schien Paulette Lenert nicht immer die besten Antworten zu haben. Auf die Frage, wie das mit Patient/innen sei, die kein Smartphone haben, meinte sie, sie könnten sich in einer der Agenturen der CNS helfen lassen. Was freilich nicht einmal „so etwas“ wäre wie ein Tiers payant généralisé.
Immerhin aber soll, wenn demnächst das Scannen von QR-Codes beim Arzt beginnt, nicht nur jene App zur Verfügung stehen, die eine von der AMMD mitgegründete Firma entwickelt hat. Die CNS lässt ebenfalls an einer arbeiten. Der CNS-Präsident betont, sie werde für alle Leistungen, die die Kasse auf ihr anbietet, gratis sein.