d’Land: Herr Knebeler, nach der Krankenkassen-Quadripartite vergangene Woche sagten Sie, noch immer seien nicht alle versprochenen Leistungsverbesserungen an die Versicherten umgesetzt. Was fehlt noch?
Christophe Knebeler: Ziemlich viel. 2016 und 2017 hatte der Sozialminister aus den hohen Reserven der CNS Leistungsverbesserungen im Umfang von 25 Millionen Euro angekündigt. Umgesetzt wurde das zur Hälfte, was noch fehlt, sind Verbesserungen bei Zahnarzt- und Optikerleistungen. Da zahlen die Patienten besonders viel zu. Laut Schätzungen der CNS liegt über alle Zahnarztleistungen die Eigenbeteiligung bei 50 Prozent, bei Optikerleistungen sogar bei 75 Prozent. Das ist enorm, wenn man bedenkt, dass es bei Arztleistungen im Schnitt 8,2 Prozent sind.
Es gab aber Verbesserungen beim Zahnarzt und beim Optiker, oder?
Nicht genug. Noch immer kommt die CNS zum Beispiel nicht für weiße Zahnfüllungen auf, obwohl die seit vielen Jahren gemacht werden. Es gibt keinen Tarif dafür, also zahlt der Patient die Mehrkosten aus seiner Tasche. Die Kostenübernahme für Brillen soll modernisiert und erhöht werden. Geschehen ist bisher nichts. Lediglich die Frist, ab der man Anspruch auf Kostenübernahme für Kontaktlinsen hat, wurde an die Frist für Brillen angepasst.
Ist das die Schuld der CNS oder des Sozialministers?
Berechtigte Frage. Ein neuer Tarif für Zahnfüllungen muss in die Gebührenordnung der Zahnärzte eingefügt werden. Damit müsste die Nomenklaturkommission sich befassen, doch die war ab Mai 2018 blockiert, weil der Ärzteverband AMMD an ihren Sitzungen nicht mehr teilnahm. Die Blockade zu lösen, war ein politisches Problem für den Sozialminister. Die Kostenübernahme für Brillen zu verbessern, könnte die CNS beschließen. Ihr Verwaltungsrat wartet aber bis heute darauf, vom Sozialminister zu erfahren, was er dazu angedacht hat. Das wurde von Anfang an vage gehalten. Ohne Hinweise aus dem Ministerium ist es für die CNS wegen des Tripartite-Prinzips im Verwaltungsrat nicht so einfach, Verbesserungen zu beschließen. Dass die Unternehmervertreter sie mittragen würden, ist nicht gesagt. Wir hatten zum Beispiel diskutiert, die Frist zu verkürzen, ab der die Kasse einen Teil der Kosten für die Erneuerung einer Zahnprothese übernimmt. Früher lag sie bei 15 Jahren, der Sozialminister schlug 12 Jahre vor. Die Zahnärzte erklärten auf einer Quadripartite, zehn Jahre seien besser, ihre Begründungen leuchteten den Gewerkschaftsvertretern bei der CNS ein. Bei der Abstimmung im Verwaltungsrat hielten die UEL-Vertreter an 12 Jahren fest, die Gewerkschaften wollten zehn und der CNS-Präsident als Vertreter des Ministers schloss sich der UEL an. Der Minister hatte also nicht den politischen Mut, die zehn Jahre mitzutragen! Dabei belaufen sich die Mehrkosten auf eine halbe Million Euro im Jahr. Setze ich das in Beziehung zu den607 Millionen in der Reserve, wird mir schlecht.
Funktioniert der Sozialdialog in der CNS noch?
Ja. In allen Gremien der Sozialversicherung gibt es keine großen Auseinandersetzungen zwischen UEL und Gewerkschaften. Meinungsverschiedenheiten gibt es, das liegt in der Natur der Sache. Aber wir sind nicht wie Katz’ und Maus, wir wollen letztlich alle ein gutes Gesundheitssystem. In vielen Fällen besteht Einigkeit zwischen den Sozialpartnern, zum Beispiel rund um die Mutterschaftsausgaben. Die wurden bis 2010 gänzlich über den Staatshaushalt finanziert, anschließend gingen sie immer stärker zu Lasten der CNS. Sowohl die Gewerkschafts- als auch die Arbeitgebervertreter bemängeln, dass die Mutterschaftsausgaben derzeit nur mit 20 Millionen Euro pro Jahr vom Staat bezuschusst werden, obwohl die Gesamtkosten sich für die CNS für 2019 auf 64 Millionen belaufen. Beide Seiten teilen auch die Auffassung, dass die CNS in der Prävention aktiver werden müsste.
Wie ist das gemeint?
Ich meine damit zum Beispiel eine Kostenübernahme auch für Zahnspangen für Erwachsene durch die CNS. Ich kenne Leute, die benötigen aus medizinischen Gründen eine Zahnspange. Doch die Kostenübernahme endet bei 18-Jährigen, wer älter ist, zahlt Tausende von Euro, und die CNS erstattet nicht einen Cent. Dabei vermeidet eine Zahnspange spätere Behandlungen. Prävention ist ein sehr großes Thema.
Prävention soll auch eines der fünf Themen am Gesundheitstisch sein.
Der Gesundheitstisch ist sehr wichtig. Eigentlich müsste unser Gesundheitssystem sich ständig in Frage stellen und erneuern. Was die Prävention angeht, verlangen die Gewerkschaften seit Jahren eine Bilanz der bestehenden Präventionsprogramme. Zuständig für die Programme ist in erster Linie das Gesundheitsministerium. Bisher gibt es keine Bilanz. Präventionsprogramme werden formuliert, sobald ein Problem festgestellt wurde, doch dann werden sie laufen gelassen, ohne nach den Resultaten zu schauen. Wenn es ein Programm gibt wie Gesond iessen, méi beweegen und dennoch die Diabetes-Erkrankungen zunehmen, muss man sich fragen, ob die Prävention ihren Zielen gerecht wird.
Neben der Prävention soll der Gesundheitstisch auch über die Finanzierung des Systems; über Innovationen; die klinische und außerklinische Versorgung sowie das Verhältnis zwischen Versicherten und Gesunndheitsdienstleistern sprechen. Sind das die richtigen Themen?
Der LCGB stellt diese Themen nicht infrage. Ich fand es aber seltsam, dass die Regierung den Gesundheitstisch ankündigte und auf der Quadripartite vergangene Woche darüber groß diskutieren lassen wollte. Denn vor der Sitzung waren die fünf großen Themen nicht bekannt. Nun heißt es, es soll noch ein „Kick-off Meeting“ geben; wieso konnte man nicht vor der Quadripartite die Partner einweihen und in der Sitzung die Themen im Konsens festlegen? Eine solche Einigung hätte man sogar als Erfolg nach draußen tragen können.
Vermissen Sie beim Sozialminister politische Führung?
Pilotage wäre der richtige Ausdruck. Er müsste der Pilot eines Flugzeugs sein, das CNS heißt und in dem viele Passagiere sitzen. Chef an Bord ist der Kapitän, der mit seiner Crew schauen muss, dass alles klappt. In unserer Wirklichkeit aber scheint die linke Hand nicht zu wissen, was die rechte macht. Da müsste der Minister zumindest dafür sorgen, dass alle Beteiligten zusammenkommen. Eigentlich nicht nur der
Sozialminister, sondern auch der Gesundheitsminister. Ich bin zurzeit nicht überzeugt, dass alle am selben Strang ziehen und dass es einen großen Plan gibt, sondern viele kleine Plänchen, und dass das Gesundheitsministerium sein Ding machen will und das Sozialministerium seines. Über die Leistungsverbesserungen, die wir schon erwähnt haben, hinaus hatte die vorige Regierung noch weitere Ankündigungen gemacht. Gesundheitsministerin Lydia Mutsch berief 2018 eine Pressekonferenz ein, um zu verkünden, dass die CNS demnächst für Ostheopatie zahle, obwohl es damals noch keine Konvention mit einem Ostheopatenverband gab, geschweige Tarife. Beides gibt es bis heute nicht, wie aber geht es weiter?
Meinen Sie, dass Etienne Schneider im Amt bleibt, bis der Gesundheitstisch abgeschlossen ist?
Das müssen Sie den Gesundheitsminister fragen. Im Moment sieht es so aus, aber die Ankündigung, er werde gehen, schwebt im Raum. Gut ist das nicht, der Gesundheitstisch braucht Kontinuität bei den politisch Verantwortlichen.
Wann beginnt der Gesundheitstisch?
Das ist unklar. Laut Regierung vor Jahresende, aber das ist ja bald. Vorher soll es, wie gesagt, noch einen Austausch mit den Partnern zu den fünf großen Themen geben, doch wir wissen nicht so richtig, wer die einzelnen Gesprächspartner sind. Die Frage wurde auf der Quadripartite gestellt, die Antwort war nicht überzeugend. Unklar ist auch, wie die Themen behandelt werden sollen – ob der Reihe nach in großen Versammlungen oder in fünf Arbeitsgruppen, die einer koordinierenden Versammlung nachgeordnet sind. Das hätte alles längst geklärt werden können.
Vermutlich musste der Minister erst den Konflikt mit der AMMD lösen. Nicht zuletzt sie hatte ja eine große Systemdebatte verlangt. Dann nähme sie auch wieder an der Nomenklaturkommission teil.
Es gab im Juni dieses Jahres eine entscheidende Sitzung mit Sozialminister Romain Schneider, der CNS, der AMMD und dem Krankenhausverband. Dort wurde der Konflikt mit der AMMD beendet und der Gesundheitstisch lanciert. Aber seitdem war fast ein halbes Jahr Zeit zur Vorbereitung. Übrigens war es die CNS, die wesentlich half, den Konflikt zu lösen. Dass abgemacht wurde, der Nomenklaturkommission einen neutralen Präsidenten zu geben, ging stark auf die CNS zurück. Umso mehr empört mich, dass es erst im Oktober eine Sitzung der Nomenklaturkommission gab, die vollzählig war, auf deren Tagesordnung aber nicht jene Leistungsverbesserungen standen, die seit Jahren versprochen sind. Im Raum steht nun, es könnte 2021 so weit sein, vielleicht aber auch erst 2023. Uns ist vermittelt worden, dass es Gespräche zwischen dem Minister und den Zahnärzten gab. Romain Schneider hat demnach eine Initiative ergriffen, aber ob und wann etwas dabei herauskommt, weiß ich nicht. Der Blockade der Nomenklaturkommission hat der Minister auf jeden Fall zu lange zugeschaut. Die CNS konnte ihre Vorschläge erst machen, als er endlich alle Beteiligten zusammengerufen hatte.
Was halten Sie von Romain Schneiders Ankündigung auf der Quadripartite, in drei Jahren gebe es einen „Tiers payant de nouvelle génération“, während einen Tag vorher die AMMD das Konzept einer Smartphone-App präsentierte, die das schon im kommenden Frühjahr bieten soll? Passt die AMMD-Initiative zu den Plänen des Ministeriums?
Der CNS hatte die AMMD ihre App schon im Vorfeld vorgestellt und dort ebenfalls vom Start im Frühjahr 2020 gesprochen. Wie ich das verstehe, soll die App aber dafür sorgen, dass der Patient die Arztrechnung elektronisch von seinem Bankkonto bezahlt, die Rechnung an die CNS geht und der Patient von ihr, sofern die Zusammenarbeit mit seiner Bank klappt, schneller sein Geld bekommt. Das wäre eine Beschleunigung des derzeitigen Rückerstattungsprinzips. Tiers payant dagegen heißt, dass der Patient dem Arzt lediglich seine Eigenbeteiligung zahlt und der Arzt von der CNS den verbleibendenden Teil bekommt. Das soll der Tiers payant de nouvelle génération bewirken.
Läuft das wegen der elektronischen Verarbeitung am Ende nicht auf dasselbe hinaus?
So einfach ist das nicht. Beim AMMD-Konzept bliebe es dabei, dass der Patient etwas vorstrecken muss. Die Rückzahlungsdauer wäre kürzer, wenn alles klappt. Das Ministerium dagegen will ein öffentliches System schaffen, das den Tiers payant jedem garantiert, der hier krankenversichert ist. Wie es technisch umgesetzt wird, weiß ich nicht. Als LCGB wollen wir ein öffentliches System. Wir meinen, dass die App bestenfalls komplementär sein kann. Dass auch die AMMD an einer Lösung arbeitet, begrüßen wir aber.
Die App setzt natürlich voraus, dass jeder Patient ein Smartphone hat.
Ja, und dass alle mit der App klarkommen und dass sämtliche Banken mitmachen. Beim Konzept des Ministeriums wäre eine Frage, ob es nur in Luxemburg funktionieren würde oder auch im Ausland, was Grenzpendler interessieren wird. Bei der App stellt diese Frage sich auch. Generell finden wir, dass auch die Regierung an einer Zwischenlösung hätte arbeiten können. Drei Jahre für die technische Umsetzung des Tiers payant sind viel zu lang. Wenn es nicht anders geht, muss man den Leuten mit Zwischenlösungen entgegenkommen. Da hat die AMMD die Regierung nun überholt.
Lassen Sie uns noch einmal auf den Sozialdialog zurückkommen, denn am Dienstag fand die Kundgebung der drei großen Gewerkschaften statt. Fürchten Sie, die UEL könnte ihre Mitarbeit in der CNS infrage stellen? Sie hatte ja schon vor drei Jahren erklärt, nichts mehr mit den Sachleistungen der Kasse zu tun haben zu wollen.
Gut ist es nicht, wenn in der Öffentlichkeit nationale Tripartite-Gremien infrage gestellt werden, weil dann sofort die Frage aufkommt, was das für die Sozialversicherung bedeutet. Dass die UEL 2016 sagte, sie wolle die CNS verlassen, verstand ich nicht. Sie sagte, sie habe die nötigen Fachkompetenzen nicht, und es sei nicht der Betrieb, der krank wird. Doch zu einem Betrieb gehören Mitarbeiter, und Fakt ist, dass ein Mensch auch wegen seines Arbeitsumfelds erkranken kann. Da ist auch der Arbeitgeber gefordert, und es ist sinnvoll, dass Betriebe Beiträge zur Krankenversicherung zahlen und sich die Unternehmerverbände dafür interessieren, wo das Gesundheitssystem hinsteuert.
Worüber soll der Gesundheitstisch diskutieren können, wenn ein großes Thema „Finanzierung“ heißt?
Wir wollen weiterhin ein öffentliches System, das nach dem Tripartite-Modell finanziert wird. Das schließt nicht aus, sich nach neuen Einnahmequellen umzusehen. Wie gesagt: Wir sind dafür, die Gesundheitsversorgung zu hinterfragen und zu erneuern, sie ist nichts Statisches. Wenn sich am Ende neue Finanzbedarfe ergeben, muss man langfristig schauen, wie man sie deckt. Aber daraus kann nicht folgen, die solidarische Finanzierung infrage zu stellen.