Ist das Luxemburger Gesundheitssystem, so wie es funktioniert, gesundheitsschädlich? Man konnte es meinen nach den Erklärungen der Spitze des Ärzteverbands AMMD am Montag. „Unser System ist am Ende!“, berichtete Verbandspräsident Alain Schmit. „Das System ist polymorbid“, sagte Generalsekretär Guillaume Steichen.
Zum Beispiel insofern: „Stellen Sie sich vor“, so Steichen, „ein Kind muss am Blinddarm operiert werden und hat auch eine Warze oder eine Vorhautverengung. Mehr als logisch wäre, die beiden Probleme unter einer Narkose zu beheben. Das Regelwerk lässt das aber nicht zu. Das ist ganz klar nicht im Interesse des Kindes.“ Und der AMMD-Generalsekretär wiederholte: „Stellen Sie sich vor, ein Kind zwei Mal einschlafen zu lassen!“ In der Bauchchirurgie sei es „nicht mehr erlaubt, unter einer Narkose mehr als einen Eingriff vorzunehmen“.
Die Beschwörung mit dem Kind hatte ihre Suggestivkraft. Die Bauchchirurgie ist eine der ersten und wenigen Disziplinen, für die ein neues Kapitel in der Ärzte-Gebührenordnung gilt, in der Nomenclature des médecins. Vor zwei Jahren hatte die Überarbeitung der Gebührenordnung Kapitel für Kapitel begonnen. Quasi jeder in der Gesundheitsszene hält die Nomenclature der Ärzte für lückenhaft und veraltet. Das Viszeralchirurgie-Kapitel wurde mit viel Aufwand neu gefasst und enthält nun viel mehr technische Akte mit Tarifen, die ein Arzt abrechnen kann: 2009 waren es 71. Heute sind es sind es 307.
Die AMMD aber erklärte am Montag: Was in der Bauchchirurgie nun gilt, sei „der Auslöser“ gewesen, weshalb sie im Mai 2018 entschieden habe, in jener Kommission, die über Änderungen an Gebührenordnungen abstimmt, bis auf Weiteres nicht mehr mitzumachen. Die Entschließungen der Nomenklaturkommisison sind der wichtigste Input für den Sozialminister, der Anträge zu Änderungen von Gebührenordnungen dem Regierungsrat unterbreitet. „Aber was sollen wir dort, wenn wir wissen, dass wir überstimmt werden?“, stellte AMMD-Präsident Schmit in den Raum. Die Nomenklaturkommission müsse „paritätisch“ zusammengesetzt sein.
„Hypothetisch“ könne es tatsächlich nötig sein, dass ein Chirurg einen Patienten zwei Mal operieren muss, wie von der AMMD angedeutet, sagt Alain Foxius, Bauchchirurg in Ettelbrück und Sekretär der Gesellschaft für Viszeralchirurgie. Die ist eine Fachgesellschaft, keine Unterorganisation der AMMD. Dass es für die Bauchchirurgie nun viel mehr Tarife gibt, liege unter anderem daran, dass versucht wurde, damit möglichst vielen Eventualitäten Rechnung zu tragen, denen ein Chirurg begegnen kann. Auch wenn unter einer Narkose mehr als ein Problem behoben werden soll. „Früher konnten wir in so einem Fall bis zu drei Eingriffe miteinander kumulieren. Wir konnten den ersten zu hundert Prozent abrechnen, den zweiten und den dritten zu jeweils 50 Prozent.“ Heute gelte nur jeweils ein Tarif, ein „Mono-Code“, der hoffentlich auf das zutrifft, was der Chirurg vorfindet. Doch immer klappe das nicht, sagt Alain Foxius. „Einen Akt, der eine Entfernung von Metastasen an der Leber mit einer Operation am Dickdarm verknüpft, gibt es zum Beispiel nicht.“ Desgleichen, wenn ein Kinderchirurg einen Nabelschnurbruch operiert und auch eine Vorhautverengung sieht. Wollte er beides operieren, müsse er entweder hinnehmen, nur einen Eingriff abzurechnen, oder beim Medizinischen Kontrolldienst der Sozialversicherung eine Sondergenehmigung einholen. Oder der Chirurg plant eine weitere Operation.
Bei der Ausarbeitung des neuen Bauchchirurgie-Kapitels war Alain Foxius einer der Vertreter seiner Fachgesellschaft dabei. Das war eine gemeinsame Arbeit mit der CNS und einem französischen Experten. Die Gesellschaft für Viszeralchirurgie habe aber nur an der Aufstellung der vielen neuen Akte und ihren libellés mitgewirkt. Die Frage, ob ein Chirurg auch weiterhin Eingriffe kumulieren könne, habe sich erst in der Nomenklaturkommission gestellt. Da war Foxius ebenfalls dabei. „Das war ein richtiger Streitpunkt.“ Der französische Experte habe für Kumuls plädiert, weil das neue Tarifgebäude eben nicht alles abbilden könne. Die CNS aber sei der Meinung gewesen, Kumuls würden Missbräuchen die Tür öffnen. „Man konnte den Eindruck haben, da würden Ärzte unter Generalverdacht gestellt.“ Die Vertreter der AMMD in der Nomenklaturkommission hätten sich nicht durchsetzen können. „Bei den Kräfteverhältnissen in der Kommission fehlen ihr dazu die Hebel.“
Die Anti-Kumul-Regeln hält Alain Foxius auf jeden Fall für eine administrative Hürde. Es bleibe abzuwarten, wie restriktiv oder nicht der Medizinische Kontrolldienst der Sozialversicherung Sondergenehmigungen vergibt. „Beantragt werden können sie auch im Nachhinein. Das muss ja so sein, bei der Operation eines Notfallpatienten kann man nicht im Voraus wissen, was alles zu tun ist.“ Falls CNS und Kontrolldienst meinen würden, sie müssten Ausgaben sparen, könnte es „Mehrfacheingriffe“, vor denen die AMMD am Montag warnte, womöglich geben. „Aus chirurgischer Sicht aber sind sie abzulehnen“. Der Sekretär der Gesellschaft für Viszeralchirurgie kann verstehen, dass die AMMD in der Nomenklaturkommission mehr Einfluss reklamiert.
Die CNS hatte dem Land eine Stellungnahme zu den Vorwürfen der AMMD angekündigt, meldete sich bis zum Redaktionsschluss dieses Artikels aber nicht mehr. Die AMMD hat am Montag mehr Einfluss in der so wichtigen Kommission verlangt. Ihr Präsident verglich deren Zusammensetzung mit einem Fußballspiel: In der linken Spielfeldhälfte würden zwei Spieler der CNS und zwei aus der Regierung (aus Sozial- beziehungsweise Gesundheitsministerium) eine Mannschaft bilden. In der rechten Hälfte laufen vier Akteure der AMMD auf. Doch ebenfalls im Spiel ist der Präsident der Kommission. Weil der derzeitige im Hauptberuf Direktor der Generalinspektion der Sozialversicherung (IGSS) ist, schlägt die AMMD ihn der Mannschaft von Regierung und CNS zu. Im AMMD-Team wiederum agiert noch ein Spieler des Krankenhausverbands FHL. Zurzeit ist das der Generaldirektor des CHL. Er ist mit seiner Stimme in der Kommission immer dann anwesend, wenn Diskussionen der Ärzte-Gebührenordnung die Krankenhausmedizin betreffen. Weil die ersten Änderungen an dem Ärzte-Tarifwerk an den Chirurgie-Kapiteln vorgenommen werden, geht es dabei immer auch um Klinikmedizin.
Die AMMD will, dass der Krankenhaus-Spieler vom Feld geht. „Er gehört da nicht hin. Wir Ärzte haben eine Konvention mit der CNS, nicht mit dem Krankenhausverband.“ Der Präsident der Nomenklaturkommission wiederum müsse eine „unparteiische Persönlichkeit“ sein, die AMMD und CNS gemeinsam vorschlagen. Nichts gegen den aktuellen Präsident als Person. Aber heute würden „ökonomische Erwägungen überwiegen“, unterstellt Alain Schmit. Da sei es für den Präsident der Kommission, der zugleich IGSS-Direktor ist, „verführerisch“, doch mit Regierung und CNS zu spielen.
Welche ökonomischen Erwägungen das sein sollen, illustrierte die AMMD am Montag an weiteren Beispielen: Ein Diabetiker könne eine Ultraschall-Untersuchung seiner Schlagadern am Hals und am Bein nicht an einem einzigen Arzttermin erhalten, sondern müsse zweimal kommen. Ein Kardiologe könne an seinem Patienten nicht am selben Termin einen Herz-Leistungstest und einen Ultraschall machen, „auch wenn das angebracht und für den Patienten einfacher wäre“.
In einem Briefwechsel mit der AMMD hat der IGSS-Direktor sich im März gegen die Unterstellung verwahrt, dass er dieses Amt mit dem des Vorsitzenden der Nomenklaturkommission vermischen würde. Die AMMD hatte in ihren Briefen an ihn auch nicht einen konkreten Fall genannt, in dem er das getan hätte. Am Montagnachmittag fand zur Nomenklaturkommission ein Treffen mit Sozialminister Romain Schneider (LSAP) statt. Eingeladen waren neben der AMMD auch die CNS, Gewerkschafts- und Unternehmervertreter aus ihrem Verwaltungsrat und der Krankenhausverband. Die Regierung hat in Aussicht gestellt, sich mit der Nomenklaturkommission auseinanderzusetzen: Der Koalitionsvertrag verspricht, „Zusammensetzung und Funktionsweise“ der Kommission würden im Hinblick auf ihre „Entscheidungsfindungsmechanismen und zur Beschleunigung der Prozeduren analysiert“.
Das Treffen mit dem Minister sei das erste gewesen, zu dem alle an der Nomenklaturkommission Beteiligten, wenn es um Arztleistungen geht, eingeladen waren, sagte Abilio Fernandes, Generalkoordinator des Sozialministeriums, anschließend dem Land. Zuvor habe Romain Schneider bilaterale Gespräche geführt. Schlussfolgerungen seien am Montag noch keine gezogen worden; zunächst sollten sich vor einem zweiten Treffen alle noch schriftlich äußern. Wann das zweite Treffen stattfinden werde, stehe noch nicht fest und hänge davon ab, wann die Stellungnahmen zum ersten Treffen eingingen.
Neu sind die Auseinandersetzungen um die Nomenklaturkommission nicht. Aber dass Streit um die Anti-Kumul-Regeln für die Bauchchirurgie der Auslöser für die Politik des leeren Stuhls der AMMD gewesen sei, wie ihr Generalsekretär am Montag berichtete, hatte sie bisher noch nicht gesagt. Vergangenes Jahr hatte sie erklärt, sie arbeite in der Kommission erst wieder mit, wenn der Sozialminister mit ihr in eine Grundsatzdebatte über das Gesundheitssystem eingetreten sei. Dass das nur Monate vor den Wahlen zu viel verlangt war, war ihr damals natürlich klar. Ziemlich klar schien auch, dass die AMMD damals auf eine andere Regierung spekulierte: Vor den Wahlen erklärte sie, ihren Forderungen am nächsten kämen die Programme von DP und CSV.
Heute blockiert ihre Politik des leeren Stuhls auf jeden Fall die weitere Reform der veralteten Nomenklatur. Die chirurgische Disziplinen betreffenden Kapitel der Ärzte-Gebührenordnung werden mit Vorrang neu gefasst, stets von CNS, Fachgesellschaften und externen Experten. Neben der Bauchchirurgie hat bisher auch zum Teil die Orthopädische Chirurgie neue Akte und Tarife erhalten. Das Kapitel für Notfallmediziner (Urgentisten) in den Krankenhäusern wurde ebenfalls reformiert und in Kraft gesetzt. In Arbeit sind neue Kapitel für urologische Chirurgie und gynäkologische Chirurgie, für die noch verbleibende Orthopädie, die Herzchirurgie und die Neurochirurgie. Sie werden aber nicht weiterkommen ohne die Mitarbeit der AMMD in der Nomenklaturkommission.