Ende Mai erschien Margret Steckels neuer Roman Die Träne aus der Wand im Rostocker Neuer Hochschulschriftenverlag, so dass er ungewollt über die Veröffentlichung von Rosen, Rosen purzelte, die Novellensammlung, die bei den Editions Phi erschien. Was für die Autorin bestimmt unangenehm ist, gibt dem Kritiker aber die Möglichkeit, fast zeitgleich große und kleine Erzählform zu vergleichen.
Ihren Roman widmet Magret Steckel "Einem alten Haus mit seinen Geistern und seinen mutigen Erhaltern", und wer ihn nur als Chiffre für die Ex-DDR liest (das kann man, mit Einschränkungen, sicherlich tun), überliest das subtile Spiel persönlicher Bindungen und Konflikte, das komplizierte Netzwerk der Be- und Empfindlichkeiten, das man "Heimat" nennt. Sagen wir es gleich, wir haben zum Roman nicht den unmittelbaren Bezug gefunden, wie zu den Novellen. Wenn sie sich Zeit und Platz gönnen kann, erzählt Margret Steckel "anders" als in der gerafften, strengeren Form der Novelle. Und vielleicht gerade dadurch ist ihr ein weitaus "fremderes" und weitaus intensiveres Erzählstück, praktisch ein Drama gelungen, dessen Bühne ein altes Gutshaus in Mecklenburg ist, das zwei Frauen renovieren wollen.
Die Träne aus der Wand lasen wir als einen gefühlvollen, aber unsentimentalen, sehr losgelösten, stellenweise ironischen "Heimat"- oder "Heimkehrroman", stark autobiographisch und politisch wie psychologisch hochinteressant.
Margret Steckel reflektiert nicht nur das Persönliche, sondern sondiert die trügerische Idylle des alten Gutshauses Elmenow in Mecklenburg, entlarvt mit fast kriminalistischer Prosa den Genius Loci als eine Wolke unausgetriebener Teufel und vergessener Engel. Sie arbeitet mit Brechungen, Verwirrspielen, wechselt Zeit und Erzählperspektive mit der spielerischen Durchtriebenheit, zu der nur sehr weise oder sehr junge Menschen im Stande sind. Der Leser, als beständig Verwirrter, hat manchmal das Gefühl, dem Kinde nachzulaufen, das vielleicht der wahre Autor dieses Buches ist. Es ist sehr klug, erfahren und ruft: "Fang mich!" Dabei weiß es genau, wo es hinwill, doch der Verfolger nicht.
Anders als in ihren Novellen, überzeugt Margret Steckel hier weniger durch Wortzauber, als durch einen klaren, differenzierten und überaus diskursiven Erzählstyl. Die wechselnde Perspektive der emotionalen Künstlerin und der kritischen, sehr kämpferischen Übersetzerin, mutige, aber keineswegs heroisierte Frauengestalten, vielleicht Alter Egos, die vielschichtigen, manchmal nur angedeuteten Charaktere - all dies entfernt sich weit von einer klassischen Erzählstruktur, in dem die einzelnen Personen, die Hauptakteure und die Statisten, sich getreu einer inneren Logik bewegen und entwickeln. Wer etwas Spannendes lesen will, muss sich bei diesem Buch bewusst sein, dass er die Spannung nur durch die eigene Reflexion und Mutmaßung erreichen wird. Und hat man erst einmal das normale Durchlesen überwunden, entdeckt man die (man entschuldige unsere etwas philosophierende Darstellung), "Erzählung an sich". Schrecklich, spannend, traurig und irritierend. Salopp ausgedrückt: Margret Steckel hat einen Nouveau Roman "à l'ancienne" geschrieben.
Annäherung, Erinnerung, Auseinandersetzung
"Natürlich gibt es keine Geister", beruhigt einen dauernd der Verstand, aber Margret Steckels irritierende Erzählweise suggeriert das Gegenteil mit soviel psychologischer Geschicklichkeit, so weit entfernt vom Klischee, dass man plötzlich versteht, warum so viele Leute eine neurotische Vorliebe für quadratisch perfekte Neubauwohnungen haben. Denn, so vermute ich, es geht den beiden Frauen weniger um die "Restaurierung"; die Wiedereroberung der alten Heimat wird bald zur initiatischen Gruppenreise, zur gewollt/ungewollten Rückkehr zu einem verlorenen Selbst, und wenn einer der Männer aus dem Unternehmen aussteigt, symbolisiert das Verrat und wird von ihnen auch so empfunden. Es sind denn auch die vielschichtigen und kraftvollen Passagen aus der "Lore"- Perspektive, die jedem Traumdeuter und Hobbypsychologen das ersehnte Aha-Erlebnis vermitteln werden, allerdings, wie ich annehme, ein trügerisches. Der Mann, der Verräter oder die Ratio verabschiedet sich, und prompt treibt das Lore in einen wilden Feuertraum, den Margret Steckel mit einer Kraft inszeniert, die einen, gegenüber der wohlgesetzten Kühle anderer Passagen, sprachlos und ratlos zurücklässt.
"Unter einem Funkenregen, der nach oben stiebte, legte es sich in die Mitte, wurde immer durchsichtiger, ein glühendes Skelett mit Flammenfransen, immer durchsichtiger. Von den Flammen zum Flammenschein auf den Gesichtern. Versteinert, stumm auf dem Rasen. Wir alle, die Traumparty. Die Radzun hatte Luise vom Baum weggekriegt, die Stämmige hielt sie, das breite Kinn vorgestreckt, stand da wie ein General vorm Schlachtgetümmel, einem siegreichen... Bei Toten habe ich einen solchen Ausdruck gesehen."
Nach reiflicher Überlegung kann ich jeden Freund besinnlicher Literatur nur vor diesem Haus-Roman warnen. In jedem seiner alten Zimmer lauert große Prosa, also Poesie, und die Treppe hat auch einer angesägt. Und in der Hoffnung, dass jeder diese Warnung in den Wind schlägt, rate ich: "Vorsicht! Sie betreten diesen Roman auf eigene Gefahr!"
Margret Steckel: Die Träne aus der Wand, Neuer Hochschulschriftenverlag, ISBN 3-929544-61-X