Es kann doch kein Zufall sein, daß der mittlerweile schon "heilige" Roger Manderscheid in den éditions phi mit summa summarum lyrisch Lebens- und der literarische Nebendarsteller Pit Hoerold in seiner édition textîle, also praktisch im Selbstverlag, poetisch Zwischen-Bilanz zieht, oder?
Jedenfalls darf jetzt schon, im ersten Drittel des Jahres 2000, vorweg behauptet werden, die Veröffentlichung von transit oder ... letzte klangstelle vor der himmlischen ... himbeereisbaumgrenze - gedichte aus fünfundzwanzig Jahren 1974-1999 des Pit Hoerold ist, Manderscheids publizistischem Kassensturz zum Trotz, ein Schlüsseldatum der jüngeren und immer noch zauderhaften Luxemburger Literaturgeschichte.
Die Notorietät, derer sich gewisse Luxemburger SchreiberInnen erfreuen und die ihnen bis dato hilft, fast sämtliche hierzulande verliehenen Preise und Ehrungen wie Spekulationsgewinne einzustreichen, sie erinnert aufs Fatalste an derzeit verrückt hohe, auf vielfach hohlen Bilanzen fußende Börsen-Notierungen; Pit Hoerolds Sammelalbum transit aber ist ein authentisches Literaturereignis sondergleichen, denn es setzt rachitisch dünnen, dürren, nabelbeschauerischen und dennoch preisgekrönten Versbroschürchen mit seinen 400 Seiten ein dicht an Romandimensionen heranreichendes Poesie-Konvolut entgegen. Und dabei fügt Hoerold, seine Schreibarbeit aus 25 Jahren zugleich raffend und hochrechnend, der aus 246 "Nummern" sinnvoll straff komponierten Auswahl aus den taschengedichten (1979, 82 und 89) und aus paris-londres - orte der erschöpfung (1995) noch einmal 82 Gedichte oder ein weiteres Drittel hinzu!
Handwerkliche Meisterschaft, mindestens
Pit Hoerold, der mit noch tastender Liebe zu Wort, Sprache und Literatur beruflich unmittelbar ins Geschäft, und was fast wohl nicht unterschätzt werden darf, in die harte Lehre der Verfertigung von Werbetexten wechselt, hat bis jetzt, wo er privat an eine Schicksalswende gekommen zu sein glaubt, Auftritte auf der hiesigen beschränkten, doch großmäuligen Literaturszene, allesamt quasi "off Broadway" arrangiert und absolviert. Pit Hoerold hat auch, in sympathischem Kontrast zu der wachsenden Zahl vorgeblich "frei"schaffender, aber willig-süffig am öffentlichen Subventionstropf hängenden Schreiber, nie ein Hehl aus der gewiss nicht immer rosigen Abhängigkeit von Honorar, Gage oder Lohn gemacht. Dennoch, ab der ersten Lieferung taschengedichte entspringt Hoerold, sozusagen poetisch voll gewappnet, dem eignen Haupt; in seinem Erstling finden sich allenfalls noch Schlacken thematischen und formalen Pubertierens.
Zwar entstehen und drehen sich erste Verse um das emblematisch für kleine Heimat stehende Dorf, in das er sich "geworfen" fühlt, doch da hat er sich schon sowohl das persönliche als auch das lyrische Ich, wie es gern früh(reife) Gedichte durchwabert, abgeschminkt oder bereits in ein "du" umgebrochen:
FÄHRST DU Ein in L.,
siehst du
1 kirche
3 kneipen
1 metzgerei
1 krämerei
jede viertelstunde schlägt die kirch-
turmuhr, wie tauben fliegen ihre
schläge auf, wenn der zeiger weiter
rückt, knackt's im gehäuse, das ist
das gurren der blechernen tauben,
die bereits die ewigkeit erreichten,
der fleischer sorgt für die tägliche
ration an rot, die leuchtschriften
der cafés haben es nie zu lampenfieber
gebracht
Schon hier erscheinen Hoerolds Verse gern wider den eignen Fluxus gebaut, schon jetzt treibt der Dichter Hoerold der Sprachkomposition die Neigung, zu "singen", schon deshalb gründlich aus, weil es heißt, in ihnen die bare, die flache, ärmliche Wirklichkeit gestalterisch, nachschöpfend zu ver"dichten", ohne sie ganz ihres Poesieseins zu berauben; doch er nimmt dazu, worauf er später, die Mehrdeutigkeit von Sprache möglichst zu überspitzen oder ad absurdum zu führen, verzichtet, wie zu Krücken Zuflucht zu maßvoller Interpunktion. Es dauert freilich nicht lange, und Hoerold, in dem es wie in keinem Luxemburger Schreiber seiner Generation sprachvulkanisch brodelt, weiß sich des machtvollen wortkreativen Nachdrängens, der fast gewaltsamen sprachlichen Nachschwingungen nicht mehr wirksamer oder eloquenter zu erwehren als einzelne Worte unter Mithilfe aller Stufen von Ein- und Ausklammerung zu zerlegen, zu atomisieren, aber auch, dank denkbarer Nuancierungen und Abstufungen mehrdeutiger, allusionsreicher zu machen.
Mancher Leser mag mit Hoerolds dicht an Akrobatie heranreichender generativer Virtuosität anfangs seine Malessen haben, er liest sich freilich mit einem Minimum an Einfühlungsvermögen und Sprachsensibilität nicht bloß recht bald ein, sondern wird sich wohl nur mehr schwer den zauberischen Fliehkräften dieses Poesieschwungs, dieses steinichten Beats, dieses jazzigen Sounds entziehen können:
W I(H)R
Wir waschen uns die Zähne mit Zahnpastete
die J(h)aare gehen an uns vorüber kratzende
Fingernägel (an) Muscheln(n)-Tiere schnappten uns
die Ohren weg "Walkman, kommst du nach Spaßnien..."
Der Wind streicht um die Arbeits-h/losen ein radi-
kalter Wind/ter sog dem Regenstaat das Brustbein
aus den lichtlosen Fleischgebäuden. Hellau liebes Atem-
kraftwerk ver-s(ch)enke uns-ere gute alte Mutter B.Er.r.de.
"Hallo, Reiseleiter, lehre uns das Hifi-rmament
die Schläge/Schlager... wir music-boxen uns
Stamp(ede)f-Lieder in den rauchenden Aschenmund."
Und mit den T/Köpfen tech-nicken (electro-nicken)
wir (Erlaß-Verlies) und ein fürchter-liches tam-tam
erklingt aus unseren L/Häuse(r)n. Applaus Ab Laus.
Wir haben es in WI(H)R noch nicht einmal mit Hoerolds komplexester Gedichtkomposition zu tun, Hoerolds Einfalls-, ja, fast schon Ausfallsreichstum stößt mitunter hart die Grenzen der Sprache selbst bzw. der Möglichkeit, den Klang, den Sinn, die Bedeutung, kurzum das Wesen von Sprache zu visualisieren; der wohl auch mit dem grafischen Impakt der Sprache vertraute Werbetexter Hoerold komponiert vermutlich seit je seine Gedichte am Computer und behilft sich, jenseits sprachlicher Darstellbarkeit, denn auch tapfer mit angeblich so arg poesiefeindlichen Techniken wie der Fotokopie oder des Scanners.
Gewiss, mit fortschreitender schöpferischer Meisterschaft, unter der Wirkungswucht seiner inspirierten Mitteilungswut tut Hoerold nicht selten des abstrus und unorthodox Guten entschieden zuviel, aber einer hat es wohl auf sich nehmen müssen, noch über die notorische Experimentierfreude eines Roger Manderscheid hinaus in diese literarischen Einsamkeiten vorzudringen, damit endlich, endlich mit dem narzissistischen Lyrik-Idyll L. tabula rasa gemacht sei!
Kunst UND Wirklichkeit, auch!
Es ist, sowohl von ihrem höchst wandelbaren, spitzfindig ausgeklügelten grafischen Arrangement als auch von ihrem über die Jahre bewundernswert gewachsenen stilistischen und thematischen Reichtum her, unmöglich, die volle Bandbreite des Sammelbandes transit hier auch nur anzudeuten, geschweige denn erschöpfend vorzuführen. Gewiss, auch wenn man über die Lebens- und Schaffenszeit gestreute Veröffentlichungen weniger schreibfreudiger, minder inspirierter und talentierter PoetInnen hochstapeln oder bündeln wollte, ergäbe sich vielleicht ein überraschend beachtliches Konvolut, nichtsdestotrotz fordert Pit Hoerold inzwischen wohl selbst den nicht sonderlich zahlreichen Freunden und Kennern seines Oeuvres Verblüffung, fast Bestürzung darüber ab, dass sich hierzulande beinahe ganz im Stillen ein deutschsprachiges Poesie-Oeuvre entwickelt, vertieft und verdichtet hat, das in seinen besten, geglücktesten Stücken den Vergleich mit den besten Könnern in dieser Sparte nicht scheut.
Die zwei oben angeführten, nicht ohne Bedenken aus der Masse gleichwertiger Exempel ausgewählten Werkmuster sind möglicherweise dazu angetan, hinter Pit Hoerold doch wieder "nur einen Lyriker" zu vermuten, doch, nein, gleich von seinen Anfängen her geht Hoerold mit reifer Kunstfertigkeit die ihm unmittelbar nahe kleinbürgerliche, beschränkte, lokale, dörfliche, gedrückte Wirklichkeit an, es ist ihm kein Gegenstand, kein Ort, kein Gefühl, keine Witterung, kein Mensch, kein Zustand zu gering, ihm nicht in Sprachrespekt und mit Wortgespür so nahe zu kommen und so gerecht wie möglich zu werden; Hoerold ist darin, ohne es ausdrücklich anzustreben, den US-amerikanischen Beatniks so dicht auf der Spur wie seine Gedichte auch die Lieder des "Helden" in einem typischen road movie sein könnten.
Etwas schwächer, sprachlahmer wirkt Dichter Pit Hoerold in seiner ansonsten wie eine große Gedichtsinfonie komponierten Sammlung, wo in den sechs "Sätzen" gewisse Themen, leicht oder stark variiert wie Leitmotive mehrmals wiederkehren, dort, wo er seinen mit viel Zwang und Frust belasteten Brotberuf als Werbefachmann verarbeitet; sein Werben um eine reale, illusionslose, krude, etwas blasierte erotische Lyrik wird von der Sprache noch nicht gegengeliebt, diese "Liebesgedichte" sind, man verzeihe den Kalauer, in der "Fremdsprache" Deutsch noch allzu "vorhäutig", Hoerold verspricht sich hierin vom Dialektgedicht mehr Durchbruch und... Höhepunkt...
Poesie ist für Hoerold nichts weniger als Glasperlenspiel, er sitzt weder in einer Sprach- und Versbastelstube noch in einem Wolkenkuckucksheim, nein, er ist mit letzter Konsequenz als Poet auch durch und durch und sogar bekennender, engagierter Zeitgenosse, den Berufs"linken" auf der hiesigen Literaturbühne übrigens zumindest ebenbürtig. Allein, es fällt ein letztes Mal schwer, dieser notgedrungen höchst fragmentarischen Vorstellung der poetischen Zwischenbilanz transit, zum Beweis, daß der Poet Pit Hoerold und sein Werk durchaus "von dieser Welt" sind, unter vielen denkbar geeigneten die klangvollste Kadenz zu verpassen. Zwar dringen Hoerolds Verse aufs überzeugendste bis ins Kosovo vor, doch vielleicht ist vorher schon viel über diese so rundum guten wie verwundend kantigen Gedichte (aus)gesagt in:
POPAYAN, gründonnerstag '83, während
der wein blutet
und so das abendmahl den letzten
toten winkel
erleuchtet
der ölberg leicht unterm
kuß erzittert
bebt
in Popayan die erde
sehnsüchtig öffnet die kathedrale
dem himmel ihre kuppeln
in ihr
die meisten titen
Pit Hoerold: transit oder letzte klangstelle vor der himmlischen himbeereisbaumgrenze; édition textîle; 400 Seiten, 895 Franken. ISBN: 2-9599877-2-1.