Keine Fundamentalopposition, aber deutliche Kritik an der Umsetzung des Jugendhilfegesetzes von 2008 übten die rund 220 Erzieher, Sozialassistenten und andere Fachkräfte, die ein Wissenschaftlerinnen-Team der Universität Luxemburg befragt hat und deren Analyse nun vom Erziehungsministerium veröffentlicht wurde.
Mit dem Gesetz wurden Erziehungshilfen, Heimbetreuung und andere Unterstützungsmaßnahmen für Jugendliche und Familien in Not auf neue Füße gestellt. Seitdem haben betroffene Väter und Mütter und ihre Kinder zwar kein Recht auf Hilfe, aber immerhin ein Recht, Hilfe zu beantragen. Davon wird auch üppig Gebrauch gemacht: Von April 2012 bis April 2014 stieg die Anzahl der Hilfeempfänger von rund 1700 auf über 2 700 Personen.
Statt den Trägern von Erziehungsheimen, Therapieeinrichtungen und ambulanten Diensten ein globales Budget zur Verfügung zu stellen, werden die Maßnahmen über Fallpauschalen nach Tages- oder Stundensätzen abgerechnet. Das Jugendamt ONE wacht über die Hilfeplanung und trägt im Prinzip Sorge dafür, dass bedürftige Familien schnelle und professionelle Hilfe erhalten. Dadurch soll mittelfristig die Notwendigkeit der Jugendgerichte, in diesen Familien zu intervenieren, reduziert und Jugendliche und ihre Eltern weniger stigmatisiert werden. So lauteten die ehrgeizigen Ziele des Gesetzgebers.
Doch fast fünf Jahre später fällt die Bilanz der Verantwortlichen im Sektor recht durchwachsen aus. Besonders kritisch bewerten sie die Rolle des ONE: Zu bürokratisch, zu schwerfällig und zu einseitig auf das Bewilligen und Verwalten der Erziehungshilfen ausgerichtet sei das Office national de l’enfance. Davor, dass das ONE, das 27 Mitarbeiter beschäftigt, zu einem „Wasserkopf“ heranwachsen und die fallbezogene Finanzierung eine adäquate Hilfe behindern könnte, hatten Träger schon gewarnt, noch bevor das Gesetz in Kraft getreten war. Und darin stimmt ihnen das Gros des Personals offenbar zu: Aus den Antworten der Erzieher ist deutlich die Verärgerung und die Verunsicherung über die neue Finanzierungsform, wo nun jeder Eingriff quasi begründet und genehmigt werden muss, herauszulesen. „Viele klagten darüber, dass wegen überbordender Dokumentationspflichten weniger Zeit für die Arbeit mit den Familien bleibt. Andere sorgen sich um die Finanzierung“, fasst Ulla Peters, Sozialwissenschaftlerin und Leiterin der Studie, die Kritiken zusammen.
Dass diese Klagen allerdings echte Finanzierungsengpässe in der Jugendhilfe belegen, ist eher zweifelhaft. Tatsächlich haben sich Ausgaben für Erziehungshilfen in den vergangenen fünf Jahren fast verdoppelt, sie stiegen von rund 41 Millionen (2010) auf über 77 Millionen Euro im Jahr 2014. Und das in Krisenzeiten. Auch die Zahl der Anträge auf Familienhilfen ist mit 300 Prozent rasant gestiegen. Das Gesetz hat offenbar dazu beigetragen, dass mehr Familien denn je Hilfe beantragen. Diese Anträge werden in der Regel vom ONE bewilligt, und zwar zu über 97 Prozent. Der Tätigkeitsbericht des nun zuständigen Erziehungs- und Jugendministeriums nennt zwar keine Zahlen, sondern schreibt lediglich, die Zahl der nicht-bewilligten Anträge sei im Vergleich zu den bewilligten „verschwindend gering“.
Auch der Vorwurf der überbordenden Bürokratie, der sich in den Antworten widerspiegelt, hat mindestens zwei Seiten. Lange Zeit war die Praxis in der Sozialarbeit dadurch geprägt, dass Hilfen, die Träger leisteten, kaum bis gar nicht dokumentiert wurden. „Jeder Träger hatte sein eigenes Verfahren und seine eigene Art. Jetzt gibt es die gleichen Formulare und Prozeduren für alle“, sagt ONE-Direktor Jeff Weitzel. Das ist wichtig, denn dadurch erst werden Hilfen vergleichbar und lassen sich Rückschlüsse über deren Qualität ziehen. Fast alle Formulare wurden inzwischen überarbeitet und entschlackt. „Wir haben uns mit den Trägern beraten und sie begrüßen unsere neuen Formulare“, betont Weitzel. Ab September sollen die neuen Anträge unter guichet.public.lu elektronisch zugänglich gemacht werden.
Ob das die Kritiker des ONE als überflüssigen „Wasserkopf“ und „Bürokratiemonster“ verstummen lassen wird, muss sich erst zeigen. Möglicherweise sind die Interessen und die Sichtweisen der Träger und der Erzieher, die sich im Alltag mit der Dokumentation herumschlagen müssen, ohnehin nicht deckungsgleich. Auch das lässt sich zwischen den Zeilen der Bilanz herauslesen: Viele befragte Erzieher scheinen sich mit der Umsetzung der umfassenden Reform recht allein gelassen zu fühlen.
Das betrifft nicht nur neue Leitmotive wie die verstärkte Beteiligung der Eltern, die nun gesetzlich vorgeschrieben ist und die sich eigentlich nicht nur auf eine rein finanzielle Beteiligung beschränken sollte: Wie aber sieht die Teilnahme der Eltern am Hilfeprozess aus, wie können Erzieher Eltern beteiligen, die sich nicht für ihr Kind interessieren oder die einer Zusammenarbeit mit Sozialpädagogen und Behörden misstrauisch gegenüberstehen oder sie sogar verweigern? Erst allmählich werden Prinzipien entwickelt, schälen sich gemeinsame Praktiken heraus.
Immer wieder wird in den Antworten der Fachkräfte die fehlende Fachlichkeit des ONE bemängelt – was als eine Aufforderung verstanden werden kann, dass Erzieher kein Amt wollen, das nur als Zahlmeister fungiert, sondern sie sich mehr sozialpädagogische und psychologische Leitlinien wünschen. Bei den mündigen Hilfeempfängern hat der ONE es vorgemacht: Wer volljährig wird, den lädt das ONE ein, über sein Autonomieprojekt zu diskutieren. Das ist nicht paternalistisch gemeint, sondern soll den Jugendlichen auf ihrem Weg in die Unabhängigkeit helfen.
Den Vorwurf der mangelnden fachlichen Akzente des ONE kann Jeff Weitzel durchaus nachvollziehen: „Ich teile diese Einschätzung. Dabei sollte dies auch eine der Kernaufgaben unseres Dienstes sein.“ Weitzel und sein Team haben ein Papier erarbeitet, das eine stärker fachliche Ausrichtung des ONE vorsieht und das Weitzel mit den Trägern diskutieren will.
Doch ob tatsächlich alle Träger in der Jugendhilfe einen fachlich besser aufgestellten ONE wünschen (bisher haben nur zwölf der ONE-Mitarbeiter ein sozialpädagogisches Profil, die anderen 15 zählen zum administrativen Personal), ist nicht so sicher. Nicht umsonst war die Rolle der Coordinateurs de projet d’intervention (CIP-Dienste), also der Fallmanager, die in die Familien gehen, Diagnosen und Hilfepläne erstellen, Maßnahmen und Interventionen anraten, so lange so umstritten.
Vor allem die großen Träger wie die Caritas oder die Fondation Elisabeth wehrten sich damals mit Händen und Füßen dagegen, die Koordinatoren beim Jugendamt anzusiedeln, wie es das Ministerium ursprünglich vorhatte, weil sie um ihren Einfluss fürchteten. Schließlich stellen die CPI-Dienste mit ihren Fallanalysen die Weichen dafür, ob eine Maßnahme finanziert wird oder nicht. Es ist dem enormen Lobbying der Träger zu verdanken, dass die CPI-Dienste nun eine seltsame Zwitterfunktion haben und von den Trägern bezahlt werden, aber doch dem ONE zuarbeiten.
Der Umfrage nach ist es aber gerade diese unklare Stellung der CPI-Dienste im Gefüge der Jugendhilfe, die Konflikte, Schwammigkeiten und Frustrationen bei den Fachkräften provoziert. Es dauerte Jahre, bis eine halbwegs kohärente Fortbildung für den Posten auf die Beine gestellt wurde – und sogar das scheint nicht zu einem gemeinsamen Berufsverständnis zu führen, glaubt man manchen Rückmeldungen in der Uni-Analyse: Einige Koordinatoren würden sich, hätten sie einmal einen Fall erfasst und bewilligt, kaum mehr blicken lassen, andere leisteten vorbildliche Arbeit und seien rund um die Uhr im Einsatz. Kein Wunder, dass sich inzwischen kaum noch Erzieher finden, die sich zum CPI weiterbilden lassen, nachdem anfänglich der Run auf die Weiterbildung wegen der erhofften Aufstiegsmöglichkeiten groß war. Der befürchtete Braindrain, den Träger als Schreckensszenario an die Wand gemalt hatten, ist jedenfalls ausgeblieben.
So gesehen, lassen sich die Umfrageergebnisse als einen Aufforderung an die Politik lesen: mehr Führung zu beweisen und sich weniger von Lobbyinteressen beeinflussen zu lassen. Der Jugendhilfebereich funktioniert, ähnlich wie die Schule, sehr korporatistisch, nur dass es hier nicht die Gewerkschaften sind, die den Ton vorgeben, sondern die großen Träger stationärer Einrichtungen, die traditionell sehr enge Verbindungen ins Familienministerium hatten und lange schalten und walten konnten, ohne groß Rechenschaft über ihre Arbeit abzulegen.
Das aber könnte sich ändern. Denn die Bilanz der Uni soll dazu dienen, mögliche Lücken zu schließen. In ihrem Empfehlungen schreiben die Wissenschaftlerinnen Ulla Peters und Julia Jäger neben anderen, die „präventive Funktion des ONE zu stärken“, die Rolle der CPI und ihre Aufgabe zu klären, ebenso die Zusammenarbeit mit den angrenzenden Systemen zu verbessern, wie der Gerichtshilfe (Scas) oder der Schule, die vom Gesetzgeber geradezu vergessen wurde, obwohl ihr eine wichtige Rolle in der Jugendhilfe zukommt. Auch Gesetzesänderungen hat das Erziehungsministerium nicht ausgeschlossen. Am 1. Juli trafen sich Vertreter der Heime, der ambulanten Dienste, des ONE und des Ministeriums, um über die Schlussfolgerungen der Analyse zu beraten. Offenbar kursieren sogar Ideen für neue Finanzierungsstrukturen: So könnten Dienste, wie die Hilfen für Flüchtlingskinder oder ein 24-Stunden-Notdienst, aus dem Staatsbudget bezahlt werden, während therapeutische Hilfeleistungen weiterhin nach Fallpauschalen bezahlt würden.
Bleibt noch ein wichtiges, bisher nicht eingelöstes Versprechen des Jugendhilfegesetzes: Ursprünglich sollte mit der Stärkung der Sozialarbeit insbesondere die Zahl der gerichtlich verordneten Heimeinweisungen und Erziehungsauflagen verringert werden. Das aber hat, das zeigen die Zahlen, nicht geklappt. Gerade in den staatlichen Jugendheimen Dreiborn und Schrassig sind nahezu 100 Prozent der Fälle gerichtlich angeordnet. Schlimmer noch: Einige, die den bürokratischen Aufwand scheuen, scheinen sich bevorzugt an die Gerichte zu wenden und das ONE zu umgehen, in der Hoffnung dort schneller Hilfe zu finden. Damit aber wäre das Ziel der Jugendhilfe konterkariert.
Ursache dafür ist, dass sich die schwarz-rote Mehrheit sich damals nicht traute, den Einfluss der Jugendrichter per Gesetz zu beschneiden und den ONE als ersten Ansprechpartner für Familien in Not festzuschreiben. Damit die Dominanz der Gerichte gebrochen würde, müsste das Jugendschutzgesetz von 1992 von Grund auf reformiert werden. Ein – umstrittener – Entwurf liegt seit 2004 vor. So beharren Jugendrichter weiter darauf, minderjährige Jugendliche zur Not ins Erwachsenengefängnis sperren zu können, obwohl Luxemburg für diese Praxis von Menschenrechtsexperten in ganz Europa kritisiert wird. Gespräche für eine Jugendschutzreform sind im Gange. Doch die Ansichten gehen auch Jahre nach Neuordnung der Jugendhilfe weit auseinander und der grüne Justizminister Félix Braz hat bisher selbst öffentlich noch keine Position bezogen. Er wollr zunächst alle Akteure zu Wort kommen lassen, heißt es aus dem Ministerium. Sollte auch diese Reform lückenhaft werden, weil Politiker sich keine Führung zutrauen und lieber mächtigen Lobbygruppen folgen statt das Wohl der Jugendlichen an erster Stelle zu setzen?