Eines Spätnachmittags in einem Jugendhaus am Rande der Hauptstadt. Weil die wolkige Wetterlage von einem sonnigen Abschnitt unterbrochen wurde, sind die Tischtennisplatten im Hof stark umlagert. Drinnen im Haus herrscht rege Aktivität am Billardtisch, aber auch auf den Sitzgelegenheiten abseits hat die Jugend es sich bequem gemacht. Laute Musik dröhnt. Zwei So-zialpädagogen laufen umher. An den Wänden hängen Bilder, die aussehen wie nachbearbeitete Selfies, die großformatig ausgedruckt wurden.
„Interessiert euch das Wahlrecht ab 16?“ – „Neee!“, tönt es vielstimmig vom Billardtisch. „Das geht mich nichts an!“, ruft ein Mädchen mit spitzer Stimme, „ich bin erst 15.“ Die nebenan sitzende Freundin umhalst die Ruferin und dann lachen beide schrill. „Na kommt“, versucht eine Sozialpädagogin ihre Rolle zu spielen, „in zwei Wochen ist Referendum. Da wird auch über das Wahlrecht für Sechzehnjährige abgestimmt. Da geht es um euch!“ Statt einer Antwort aus der potenziellen Jungwählerschaft äußert ein schon Älterer: „Wählen mit 16? Auf keinen Fall! Sechzehnjährige sind noch viel zu kindisch.“
„Naja, je nachdem.“ Manuel, nennen wir ihn mal so, obwohl es nicht stimmt, ist ein hagerer Typ mit wachen Augen. Er setzt sich in einem breiten Polstersessel aufrecht und räumt ein: „Manche haben mit 16 schon etwas kapiert. Aber ich bin 21. Als 2013 gewählt wurde, war ich 19 und habe zum ersten Mal mitgemacht. Damals habe ich für die DP gestimmt. Heute bereue ich das. Und sage mir: Wenn ich mit 19 derart verantwortungslos war, wie soll dann ein Sechzehnjähriger vernünftig entscheiden?“
Manuel hat seine Erklärung in einem Zug vorgetragen und blickt mit ernster Miene um sich. Das Votum für die DP bereut er offenbar tatsächlich. Fabio, was ebenfalls nicht stimmt, zu Manuels Rechter sitzend, ist „auch kein Freund dieser Regierung.“ Er ist 22, hat ein Jahr an der Uni Luxemburg studiert, dann abgebrochen und will im Herbst wieder anfangen. Mit Jeans und Holzfällerhemd könnte der schwarze Lockenkopf auch gut in eine Bar im Nordwesten der USA passen. Wie Manuel ist Fabio hier geborener Portugiese. „Wo kommt eigentlich dieser Gramegna her?“, will er wissen. „Wer hat den gewählt? Plötzlich war er Finanzminister!“ Pierre Gramegna verkörpert für Fabio, was er an der ganzen Regierung auszusetzen hat: „Die will nur sparen.“ Sonst habe sie nichts gemacht bisher, „außer die Homo-Ehe eingeführt. Das ist okay, aber nicht so wichtig“. Manuel erkundigt sich bei dem Besuch von der Presse, ob der Premier „eigentlich immer noch so beliebt“ sei. Als er vom Rückgang der Sympathiewerte Bettels im Politbarometer hört, ist er zufrieden. Fabio auch: „Juncker hat das ganz gut gemacht all die Jahre.“
Solche Dinge durchschauen könnten Sechzehnjährige nicht, finden beide. Politik sei schließlich „Manipulation“; die Leute bekämen erzählt, was sie hören wollen. Manuel vermutet, würde eine Partei die Legalisierung von Cannabis in Aussicht stellen, könnte sie mit den Stimmen „aller Jugendlichen“ rechnen, ganz gleich was sie sonst noch im Schilde führt. Er erinnert sich, wie er im Wahlkampf 2013 auf Plakaten „von den Rechtsextremen, also der ADR“ Steuersenkungsversprechen las. „Ich hätte nie gedacht, dass die Rechtsextremen so was versprechen würden, und hab mir gesagt, das finden bestimmt viele Leute cool und wählen die womöglich.“
Wie würde man das Sechzehnjährigen erläutern?, fragt Manuel sich. Nach dem Technik-Abitur im Zweig für Sozialberufe hat er ein Praktikum in einer Maison relais angetreten. „Dort mache ich mit Grundschülern Hausaufgaben. Ich finde, über Politik müssten Schüler schon in der Grundschule informiert werden. Aber es gibt schon jetzt so viele Schulfächer. Wenn ich mir vorstelle, in der Maison relais auch Politik zu erklären – das würden die Schüler nie wollen.“ Fabio findet, es müssten vielleicht zwei Mal im Jahr in allen Schulen ganz konzentriert politische Zusammenhänge und die Aktualität diskutiert werden. Er bezweifelt bloß, dass so was gewollt wäre, außerdem würde es Geld kosten. Aber führte man das ein, könnte man davon ausgehen, junge Wähler heranzuziehen, die „etwas verstanden haben“. Dann könne man, statt das Wahlrecht ab 16 einzuführen, das Wahlpflichtalter auf 16 senken. „Das würde ich sinnvoll finden. Oder Wahlrecht statt Pflicht für alle.“ Das Wahlrecht ab 16 würden bestimmt nicht viele nutzen. „Also ändert es nicht viel. Es sieht nur gut aus, es ist nur Show.“
Unterdessen haben sich auch ein drei Jüngere für das Wahlalter-Gespräch zu interessieren begonnen. Fabiana – falscher Name – allerdings muss auf eine Message auf ihrem Smartphone hin bald wieder gehen und hinterlässt nur, dass den Schülerinnen und Schülern ihrer 12e an einem technischen Lyzeum die Pfingstferien-Hausaufgabe gestellt worden sei, zu allen drei Referendum-Fragen fünf Pro- und Kontra-Argumente aufzuschreiben. Stöhnend bekennt Fabiana: „So viele fallen mir nie ein!“
Am Tisch sitzen bleiben Alvaro und Antonio, zwei hiermit anonymisierte fünfzehnjährige Portugiesen. Ersterer besucht eine 9e in einem technischen Lyzeum, Letzterer eine 4e im Classique. Dass sie im nächsten Lebensjahr imstande sein werden, kompetent ihr Kreuz auf einem Wahlzettel zu machen, sind sie sich nicht sicher – ganz sicher allerdings würden die wenigsten Sechzehnjährigen das können. „Wir Schüler kennen doch nicht mal alle Parteien“, sagt Antonio. „Wir kennen nur CSV und DP, und vielleicht noch die Grünen.“ Die Sozialisten nicht? „Nein. Die haben doch bei den letzten Wahlen verloren. Die sind zwar wieder in der Regierung, aber sie haben nichts mehr zu sagen. Die werden immer unwichtiger.“
So ein Urteil über den Niedergang der Sozialdemokratie kann aus dem Mund eines Fünfzehnjährigen überraschen. Aber Antonio gehört, wie Alvaro, wohl zu jener Minderheit der demnächst Sechzehnjährigen, die sich für Politik und Gesellschaft interessiert. Wahlrecht mit 16? Wieso nicht. Alvaro, ein großer Junge, der anscheinend gern ausführlich doziert, kann sich vorstellen, dass dann das Politikinteresse Jugendlicher zunähme. In Griechenland, sagt er, werde unter der neuen Regierung ebenfalls mehr über Politik diskutiert, und die Griechen hätten verstanden, dass sie das betrifft, und würden mitdebattieren.
Der kleine drahtige Alvaro, der „Kampfsport macht“, glaubt dagegen, den meisten Schülern sei Politik egal und das bleibe so. „Die wollen ihre Ruhe haben und tun können, was sie wollen.“ Dabei müsste sie Politik eigentlich etwas angehen: „Wer gewählt wird, entscheidet ja über deine Zukunft mit.“ Das Problem sei nur, dass das mit der Zukunft in Luxemburg so einfach geworden sei. „Früher war das anders. Da machte es noch etwas aus, wen man wählte. Da war es nicht so leicht, eine Arbeit zu finden, eine Familie zu gründen, halt ein gutes Leben zu führen“, behauptet Alvaro. Sollte das heute tatsächlich für jeden so einfach sein? „Natürlich nicht. Aber es ist noch immer einfach und keine Partei will das ändern. Dadurch gibt es keinen Grund, sich mit Politik zu befassen. Wer das Land führt, ist egal, und wen man wählt, auch.“
Vielleicht ist damit die „politische Mitte“ gemeint, der alles entgegenstreben und die in Frage zu stellen, ohnehin müßig sein soll. Denn Alvaro findet, in den Schulen werde nur sehr wenig über Politik informiert. Und er hat den Verdacht, dass „die“ einem „ja sowieso nicht alles erklären wollen. Die wollen, dass du nicht alles verstehst, damit sie dich leichter manipulieren können“.
„Wir sind ja auch gelangweilt“, fährt Alvaro fort. „So viele Schüler machen lauter Unsinn aus Langeweile. Als ich ans Lycée technique kam, rauchten nicht viele. Heute raucht fast jeder. Und die Eltern sagen nichts dagegen. Heute sind Neunjährige abends um neun noch auf der Straße, und die Eltern lassen das zu. Das finde ich nicht gut.“
„Nein“, sagt Antonio, „Jugendliche machen nicht aus Langeweile Unsinn, sondern damit einer hinschaut. Heutzutage soll alles einfach und schnell gehen, und du sollst dir keine Gedanken machen. Unsere Wirtschaft funktioniert genauso, da bin ich mir ganz sicher. Weil alles schnell gehen muss, sollen auch die Kinder möglichst schnell groß werden.“ Da müsse man sich nicht wundern, „wenn so viele mit 12 anfangen zu rauchen, mit 14 Alkohol trinken und Neunjährige um neun Uhr abends noch draußen unterwegs sind“. Antonio schlägt den Bogen zur politischen Bildung: „Als in der Ukraine der Krieg ausgebrochen war, hat unsere Französischlehrerin mit uns darüber geredet. Zunächst wollte die Klasse nicht und alle stöhnten: ‚Was geht mich das an, nicht schon wieder was Neues!’ Nach und nach aber interessierte es uns doch. Also: Man muss den Schülern Zeit geben, sich für etwas Neues zu interessieren. Aber wenn alles schnell gehen soll, klappt das nicht.“
Keiner der Jugendlichen wusste, dass ein Wahlrecht ab 16 tatsächlich für alle nur gelten könnte, wenn gleichzeitig das Ausländerwahlrecht eingeführt würde. Doch das ist für sie kein allzu großes Problem. Die Luxemburger Staatsbürgerschaft neben der portugiesischen haben sie entweder schon oder wollen sie noch. Genauso, meinen alle vier, sollten es auch die anderen Ausländer halten, die „schon lange hier leben“.