Es ist selbst im zarten Teenageralter und pflegt doch schon feste Traditionen: Pünktlich zum Internationalen Kinderrechtstag hat das Ombudskomitee für Kinderrechte (ORK) seinen Tätigkeitsbericht für 2014 vorgestellt. Thematischer Schwerpunkt dieses Jahr: die Beteiligung und Anhörung von Kindern, wie sie die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen in Artikel zwölf vorschreibt. Schulungen für Anwälte und Richter in Kinderrechtsfragen, ein Status für Kinderanwälte, eine Anhörung vor Gericht in einer dem Alter angemessenen Umgebung, so lauten drei von über 30 Empfehlungen des Kinderrechtsbeauftragten in diesem Jahr. Dass Luxemburg erheblichen Nachholbedarf hat weiß jeder, der sich mit der Situation der Kinder in diesem Land auseinandersetzt, oder sich einfach umschaut: Nicht nur vor Gerichten, vor allem in Schule und Kindergarten hat die konsequente Einbeziehung von Kindern in Entscheidungen, die sie betreffen, noch immer Seltenheitswert. Die Schulen, an denen Mädchen und Jungen in Kinderparlamenten sich systematisch in demokratischer Kultur und Konfliktbewältigung üben, lassen sich an wenigen Händen abzählen. Die mangelnde Beteiligung und Einbeziehung der Eltern behinderter Kinder bei der Wahl des passenden Schultyps, aber auch der behinderten Kinder selbst ist ein Dauerbrenner, wie eine Konferenz der uni Luxemburg über inklusive Bildung vor zwei Wochen bewiesen hat.
Der 115-seitige ORK-Bericht tut also gut daran, an die Rechte von Kindern und Jugendlichen zu erinnern. Er tut dies vor dem Hintergrund eines anderen Jubiläums: Vor 25 Jahren, am 20. November 1989, wurde die Kinderrechtskonvention von der UN-Generalversammlung unterschrieben, eine der Kernideen ist, dass auch Kinder eine Stimme haben und gehört werden müssen.
Und doch überrascht der Schwerpunkt des diesjährigen Kinderberichts: Die blau-rot-grüne Mehrheit kürzt das Kindergeld, sie plant wesentliche familienpolitische Änderungen, das war lang angekündigt und alles, was der Kinderrechtsbeauftragte dazu zu sagen hat, ist: Die Regierung möge doch bitte „den Impakt der Maßnahmen genau prüfen“. Er befürchte „negative Auswirkungen“, sagte ORK-Präsident René Schlechter in einem Radio-Interview, kann sich aber nicht dazu durchringen, diese klar zu benennen, geschweige denn die Kürzungen zu verurteilen. Doch was nützt den Kindern Mitspracherecht, wenn sie nicht satt sind und sie zuhause auf wenigen Quadratmetern das Allernötigste haben? Wer erhebt die Stimme für die Schwachen, deren Eltern heute schon einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt sind? In Luxemburg stieg die Armutsquote der Kinder von 19,8 auf 26,3 Prozent an. Gegenüber 2008 nahm die Armutsquote um 6,5 Prozentpunkte zu – das sind rund 8 000 Kinder mehr (d’Land vom 7.1.14).
Damit Kinder gehört werden, müssen Erwachsene zuhören, bemerkt der Bericht mit bestechender Logik. Das reicht nicht: Kinder als Individuen mit eigenen Interessen wahrzunehmen, ist wichtig. Es bedeutet, sie mit eigenen Rechten zu versehen, die Erwachsene achten müssen. Die Menschenrechte gelten ebenso für sie: das Recht auf körperliche Unversehrtheit, auf gesellschaftliche Beteiligung, auf Bildung sowieso. Aber in der Betonung des Subjektcharakters liegt eine Gefahr, die der ORK-Bericht wenig hinterfragt: die Kinder zum Sprachrohr ihrer Sache zu machen, darf nicht dazu führen, gesellschaftliche Verantwortung auf die Schwächsten abzuschieben. Ein Kind ist auch im 21. Jahrhundert nicht viel ohne Erwachsene. Nicht nur weil es Bezugspersonen braucht, die es ernähren und emotional und materiell umsorgen. Sondern weil es auf dieser Welt die Erwachsenen sind, die die Regeln des Miteinanders bestimmen.
Heerscharen von Sozialarbeiterinnen, Sozialassistenten, Lehrern, Beraterinnen, Jugendrichtern kümmern sich um Not leidende Kinder im Land. Ihr Leitmotiv, so will es die Kinderrechtskonvention und das betont auch das ORK, sollte das Wohl des Kindes sein. Doch oft ist die Berufung auf das Kindeswohl nichts anderes als dürftig verkleidete Interessen von Erwachsenen, jüngstes Beispiel das Gerangel um einen neuen Stundenplan in der Grundschule. Oder die Androhung einiger Lehrer, das Abschlussexamen zu bestreiken, weil sie nicht noch mehr arbeiten wollen. Die nationale Schülerkonferenz schlug daraufhin besorgt Alarm.
In der Politik ist es um die Lage der Kinder still geworden. René Schlechter wertet es als positives Zeichen, dass der Premierminister Xavier Bettel nun auch das ORK in seinen Amtssitz bei der Kathedrale empfing. Das habe es bisher noch nicht gegeben. Doch Hände schütteln und ein Foto sind kostenlose PR, gleichzeitig fällt auf, dass es immer weniger Politiker gibt, die sich die Interessen der Kinder auf die Fahnen geschrieben haben. Mit dem Tod von Mill Majerus ist es um Kinderrechte geradezu unheimlich still geworden. Sicherlich war der CSV-Abgeordnete nicht unumstritten, seine Projekte, darunter die Unité de sécurité und das Kinderhilfegesetz, polarisieren und lassen gerade aus kinderrechtlicher Perspektive wichtige Fragen offen. Dafür hat Majerus die Situation der Kinder wie kein anderer auf die politische Agenda der Abgeordnetenkammer gesetzt. Die Grünen sind abgetaucht, die LSAP hat nichts zum Thema zu sagen, und selbst die Opposition, viele Jahre für die Familienpolitik verantwortlich, glänzt durch Abwesenheit. Bisher stand noch kein Kinderthema auf der Tagesordnung des Parlaments. Warum meldet sich niemand zu Wort, jetzt, wo die Verfassung diskutiert wird und die einmalige Chance besteht, Kinderrechte dort zu verankern? Das Regierungsprogramm verspricht lediglich, dieses im „Lichte der Kommentare aus Fachkreise“ neu zu prüfen. Nicht einmal zum überraschend negativen Votum einer rezenten Meinungsumfrage, ob das Wahlalter auf 16 Jahre gesenkt werden soll, gab es Stellungnahmen von den Mutter-Parteien, so als wären nur Jugendorganisationen berechtigt, sich zum Thema zu äußern. Darüber entscheiden werden Erwachsene. Die letzte größere Debatte, die um die grundrechtswidrige Situation eingesperrter Mädchen und Jungen in Heimen, hatte Ombudsfrau Lydie Err angeschoben. Die Menschenrechtskommission, ebenfalls seit Jahren unermüdliche Mahnerin, schalt in einem unmissverständlichen Gutachten die geplante geschlossene Heimunterbringung in der Unisec als „ein Gefängnis“, dessen erzieherisches Konzept noch immer unklar sei, und das in jedem Fall auf jugendliche Straftäter beschränkt bleiben müsse.
An Herausforderungen mangelt es trotz einiger Fortschritte nicht: Mit dem Kinderhilfegesetz wurde die körperliche Züchtigung erstmals geächtet, wenngleich nicht sanktioniert. Und obschon Erziehungshilfen definiert und vor allem finanziell neu geregelt wurden, ein Recht auf Hilfe existiert weiterhin nicht. Mit dem Office national de l’enfance sollten die Maßnahmen straffer organisiert und besser koordiniert werden. Ob das Ziel erreicht wurde, daran bestehen erhebliche Zweifel. Der Dschungel des Beratungsangebots ist nicht lichter geworden, 2013 wurden 114 bedürftige Minderjährige im Ausland betreut, weil es hierzulande keinen Platz und kein professionelles Angebot für sie gibt. Erzieher klagen über lange Wartezeiten beim der Staatsanwaltschaft unterstellten Dienst Scas, Jugendpsychiatrie und der Dienst Treff-Punkt, wo Kinder unter Aufsicht von Fachpersonal ihre Eltern treffen können, deren Besuchsrecht wegen Gewalttätigkeit, konflikthafter Trennung oder aus anderen Gründen eingeschränkt ist, sind hoffnungslos überlaufen.
Derweil führt das Jugendschutzgesetz dazu, dass die Jugendgerichte selbst bei kleineren Delikten Kontaktstelle Nummer eins bleiben. Deren Sitzungen finden aus Jugendschutzgründen hinter geschlossenen Türen statt. Das macht Sinn, dass die Urteile jedoch nach Richterspruch unter Verschluss bleiben und die Presse Präzedenzfälle nicht einmal in anonymisierter Form einsehen kann, ist eines demokratischen Rechtsstaats unwürdig. Aprospos, es sind Jugendrichter, die nach wie vor auf einem rechtlichen Schlupfloch beharren, um in Ausnahmefällen Jugendliche ins Erwachsenengefängnis sperren zu können. Dabei prangern Menschenrechtsorganisationen im In- und Ausland diese Praxis seit Jahren als völlig unvereinbar mit den Kinderrechten an.
Die DP-LSAP-Grüne-Koalition hat eine andere Gesellschaftspolitik versprochen. Doch außer einer flächendeckenden Gratisbetreuung und Kürzungen von Familienleistungen ist zur Situation der Kinder kaum etwa zu hören. Das gilt nicht nur für die längst überfällige und von vielen Experten angemahnte Reform des Jugendschutzes, sondern ebenso für die Reform des Scheidungs- und Familienrechts. Ein geteiltes Sorgerecht gibt es noch immer nicht, Diskriminierungen beim Besuchsrecht dauern an, obwohl Organisationen wie Elteren getrennt nicht aufhört, Druck zu machen. Geht es nach der Zahl der Beratungsgespräche, zählen Familienstreitigkeiten aufgrund von Trennungen zu den Hauptaktivitäten des ORK. Die Beratungen sind wichtig, das persönliche Leid der Kinder, die zwischen Mutter und Vater hin- und hergerissen sind und nicht selten als Druckmittel eingesetzt werden, ist unermesslich. Und trotzdem ist es, als habe die Kinderrechtsbewegung mit dem aktuellen ORK an Dynamik und Dringlichkeit verloren.
Gab es vor zwei, drei Jahren rege, auch kontroverse Auseinandersetzungen darüber, wie das Heimwesen kinderrechtskonform gemacht werden kann, wie ein zeitgemäßer Jugendschutz aussehen muss, scheint die Debatte komplett zum Erliegen gekommen zu sein. Der Kinderrechtsbeauftragte Schlechter ist kein Medienmensch. Sein Draht zu den Medien ist dünn. René Schlechter redet bedächtig, starke Worte sind seine Sache nicht. Bei Interviews lächelt er, fast als sei es ihm unangenehm, überhaupt die Stimme zu erheben. Er benennt Missstände, aber seinen Aussagen fehlt oft der „Punch“. Seine Vorgängerin klang nicht unbedingt viel kämpferischer, aber um eine Meinung war sie nie verlegen. Ihre größere öffentliche Wirksamkeit mag daran gelegen haben, dass im Komitee damals eine Journalistin saß. Schlechter fordert beispielsweise nicht Nachbesserungen beim Kindergeld, er „hofft“ darauf. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.
Was ist mit dem Pflegschaftsverfahren? Dürfen homosexuelle Eltern Kinder in Pflege nehmen, hat sich die Praxis geändert, nachdem lange Jahre wegen des Rechtsempfindens insbesondere eines Jugendrichters in Luxemburg de facto ein Bann solcher Pflegschaften existierte? Wie sieht die Unterstützung von Kindern aus, deren Eltern im Gefängnis sind? Warum gibt es immer noch keine kindgerechten Besuchsräume? Was bedeuten Einsparungen bei der Rechtshilfe für Familien (und Kinder), die sich keinen Anwalt leisten können? Wie steht es mit dem Vormundschaftsrecht, das den Schutz behinderter Kinder im Trennungsfall der Eltern unnötig erschwert? Wie gut gelingt die Inklusion behinderter Kinder in Schule und Arbeitsleben wirklich?
Alles gewichtige Probleme, nur wer wird auf Lösungen drängen, wenn die Politik es nicht tut und eine Generation von Kinderrechtlern, wie Gilbert Pregno, Robert Soisson, Marie-Anne Rodesch-Hengesch, sich allmählich in den verdienten Ruhestand verabschiedet? Nachfolger von ähnlichem Format sind bislang nicht in Sicht. Oder sollen die Kinder das ebenfalls übernehmen?