Man muss keine Prophetin sein, um vorherzusagen, dass sich am heutigen Freitag wahrscheinlich einige ratlose Gesichter beim Salon des frontaliers français in Metz tummeln werden. Die französische Sektion der Gewerkschaft OGBL lädt ein, um an ihrem Stand über arbeitsrechtliche Fragen zu diskutieren, aber eine Woche nach der Vorstellung des Haushaltsentwurfs der Regierung in Luxemburg dürfte vielen Grenzgängern etwas anderes unter den Nägeln brennen.
Dass die Sparvorschläge von Blau-Rot-Grün nicht überall in der Bevölkerung gut ankommen, zeigen nicht nur empörte Einträge auf Facebook, Twitter und in den prall gefüllten Kommentarspalten von RTL. Laut Meinungsumfrage des Tageblatt sind zwei Drittel mit der aktuellen Politik der Regierung nicht zufrieden. Wer noch keine klare Meinung hat, der hat zumindest viele Fragen. Eine treibt insbesondere Grenzgänger um: Wie werden sie von den geplanten Kürzungen und Steuerplänen betroffen sein? Wird, einmal mehr, auf ihrem Rücken gespart?
Am Donnerstag vor einer Woche war Erziehungsminister Claude Meisch auf einer Pressekonferenz mit Familienministerin Corinne Cahen ein bisschen mit der Sprache herausgerückt: So soll die geplante sprachliche Frühförderung der Null- bis Dreijährigen nicht durch den so genannten Kinderzukunftsbeitrag sondern aus dem allgemeinen Staatsbudget finanziert werden.
Die umstrittene Contribution pour l’avenir des enfants von monatlich 0,5 Prozent aller Einkommen wird von allen Arbeitnehmern bezahlt, die die in Luxemburg wohnen und die die im Ausland wohnen, mit und ohne Kinder, von Freischaffenden, aber auch von Rentnern und Arbeitslosen. Um keine Steuer zu sein, wie der Premier in früheren Gesprächen beteuert hatte, müsste der Beitrag zweckgebunden, also eine konkrete Gegenleistung mit ihm verbunden sein. Da lag der Gedanke nahe, dass die geplante kostenlose Kinderbetreuung aus dem Beitrag bezahlt würde, zumal es in der Rede des Premierministers und des Finanzministers zu Beginn vergangener Woche noch so klang.
Dem ist nicht so. Die neue Kinderzukunftssteuer mache lediglich zehn Prozent des Zukunftspak aus, von ihr würden künftig die Dienstleistungsschecks und andere Geldleistungen bezahlt, aber nicht die sprachliche Frühförderung, stellte Meisch vergangene Woche klar. In zweisprachigen Krippen sollen Kinder von klein auf auf die komplexe Sprachensituation in Luxemburg vorbereitet werden. Das könnten „im Ausnahmefall“ Grenzgänger sein, die ihre Kinder in Luxemburg aufziehen wollen, aber vor allem richtet es sich an „Kinder, die in Luxemburg leben und zur Schule gehen“, sagte Claude Meisch dem Land.
Die Grenzgänger gingen gleichwohl nicht leer aus: Die Dienstleistungsschecks, über die in Luxemburg ansässige Eltern bisher Kinderbetreuungsleistungen abrechnen konnten, sollen so reformiert werden, dass künftig auch Grenzgänger von ihnen profitieren. „Wir wollen den Erhalt an bestimmte Kriterien knüpfen“, schränkt Meisch im nächsten Atemzug aber wieder ein. Künftig sollen die Schecks direkt an die Kinderbetreuungsträger, und nicht mehr an die Eltern gezahlt werden. Nur wer sich verpflichtet, ein bestimmtes Rahmenprogramm in einer gewissen Qualität anzubieten, dazu gehört laut Meisch ein luxemburgisches Sprachangebot, komme für die staatliche Subvention in Frage.
Was großzügig klingt, ist in Wahrheit ein Schritt, den die Regierung notgedrungen geht. Ähnlich wie die Studienbeihilfen, von denen die CSV-LSAP-Regierung Grenzgänger ausgenommen hatte, stehen die auf in Luxemburg ansässige Eltern beschränkten Dienstleistungsschecks seit ihrer Einführung im Jahr 2009 juristisch auf tönernen Füßen (d’Land 5.7.13). Im März 2013 warnte der Staatsrat in einem Gutachten zum geplanten Kinderbetreuungsgesetz davor, die Chèques service könnten exportierbar sein und müssten auf Grenzgänger ausgedehnt werden. Berechnungen aus dem Familienministerium gingen schon 2012 davon aus, dass sich die Kosten für die Kinderbetreuung von damals 220 Millionen Euro verdoppeln würden. Das wäre ein Schock.
Land-Informationen zufolge hat die Europäische Kommission eine Arbeitsgruppe damit beauftragt, die Leistung auf ihre Konformität mit EU-Recht hin zu prüfen. Eine Diskriminierungsklage vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg von Grenzgängern liegt derzeit nicht vor, aber sie ist möglicherweise nur eine Frage der Zeit. „Wir gehen davon aus, dass wir noch zwei Jahre Zeit haben“, beschreibt Meisch das Damoklesschwert, das über seiner Regierung hängt. Seitdem zerbrechen sich Beamte und Juristen darüber den Kopf, wie man die Leistung mit dem EU-Prinzip der Arbeitnehmerfreizügigkeit und mit der EU-Verordnung 883/2004 über die Koordinierung der Vorschriften zur sozialen Sicherheit in der EU vereinbaren kann, ohne allzu viel Geld in die Hand nehmen zu müssen.
Dagegen erscheinen die mit der Umsetzung einer landesweiten zweisprachigen Gratis-Kinderbetreuung verbundenen „praktischen Problemen“, wie Meisch sie nennt, geradezu wie ein Klacks: etwa wie sich die Kindergärten organisieren sollen, wer die Sprachförderung geben soll (und welche Sprache, siehe d’Land vom 17.10.). Bisher bleiben viele Kleinkinder bei ihrer Mutter (manchmal auch Vater) zuhause, sollen sie ebenfalls von der Gratisbetreuung profitieren, muss das Angebot massiv ausgebaut werden.
„Wir verstehen die Gratisbetreuung als Vorstufe zur Schule“, erklärte Meisch im Land-Gespräch. Anders ausgedrückt: Dadurch dass die Regierung die sprachliche Frühförderung an die öffentliche Schule heranrückt (indem die Gratis-Unterbringung während der Schulzeit gewährt und sie aus dem Staatsbudget bezahlt werden soll), definiert sie diese als Leistung, die sich auf Ansässige beschränkt. Die 170 000 Grenzgänger, die in Luxemburg arbeiten und in der Grenzregion leben, hätten kein Anrecht darauf. Die Dienstleistungsschecks wiederum würden nur für Krippen ausgeteilt, in denen Luxemburgisch gelehrt würde, als Vorbereitung zur sprachlichen Integration.
Unklar ist freilich, ob die europäischen Richter dieser Argumentation im Streitfall folgen würden. „Entscheidend ist, ob die Gratis-Kinderbetreuung eine Familienleistung ist, oder nicht“, sagt Rechtsanwalt Guy Thomas, der den OGBL im Streit um die Studienbeihilfen vor Gericht vertreten hatte. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte das Gesetz der vorigen Regierung zu den Studienbeihilfen als zu restriktiv verworfen, in seinem Urteil aber teilweise die Argumentation Luxemburgs zugunsten einer Wohnklausel zugelassen. Hunderte Eltern, die nach Luxemburg zur Arbeit pendeln, hatten damals geklagt, weil die Regierung ihnen die Studienbeihilfen für ihre Kinder vorenthielt.
Die EU-Richter hatten aber gleichzeitig klargemacht, dass die Beihilfen für den Wanderarbeitnehmer eine soziale Vergünstigung ist, die ihm nach EU-Recht zu gleichen Bedingungen zu gewähren ist wie inländischen Arbeitnehmern. Das war auch der Standpunkt der Gewerkschaften. Schon vor der Klage hatten Rechtsexperten das Gesetz kritisiert, weil es inländische Arbeitnehmer und Pendler unterschiedlich behandelt. Die CSV-LSAP-Regierung zeigte sich jedoch beratungsresistent, allen voran Hochschulminister François Biltgen (CSV), der nun am EuGH als Richter tätig ist.
Der Gerichtshof hatte die Wohnklausel (nur wer ein gewisse Anzahl von Jahren in Luxemburg gearbeitet hat, kann Studienhilfen bekommen) allerdings nicht grundsätzlich verworfen, obschon der OGBL den im neuen Studienbeihilfegesetz definierten Zeitraum von fünf Jahren erneut anficht. Eben diesen Bezug zum Beschäftigungsland könnte die neue Regierung in ihre Reform der Dienstleistungsschecks und die Gratis-Betreuung zum Nachteil der Grenzgänger einbauen, Meischs Aussagen deuten darauf hin. Land-Informationen zufolge lässt sich die Regierung für die Ausformung des neuen Leistungsrechts von externen Experten im europäischen Sozialrecht beraten.
Ein vom Land kontaktierter, unabhängiger Experte bleibt dennoch skeptisch: Ob der „Kunstgriff“ gelingt, hänge entscheidend davon ab, „wie die Kinderbetreuung definiert wird“. Aber kann eine Gratisbetreuung für Kinder von null bis drei Jahren, die als Teil eines Maßnahmenpakets kreiert wurde, um im Gegenzug übertragbare Familienleistungen wie die Erziehungshilfe zu streichen und das Kindergeld zu kürzen, als Bildungsangebot gelten? Dagegen spricht zudem, dass das Betreuungsangebot für die ganz Kleinen bisher überwiegend von privaten Trägern geleistet wird. Und geht es bei der Gratis-Betreuung nicht gerade darum, einkommensschwache Haushalte, wo beide Partner erwerbstätig sind, sowohl finanziell als auch organisatorisch zu entlasten?
Über diese Fragen brüten nun Experten, eine neuerliche Blamage gegenüber dem EuGH will die Regierung nicht riskieren. Wohl deshalb rückt Erziehungsminister Claude Meisch bisher nicht mit der Sprache heraus, genau welche Leistungen künftig aus welchem Topf zu welchen Vorgaben finanziert würden. Lediglich eine Schätzung wollte Meisch geben: Die Ausdehnung der Dienstleistungsschecks auf Grenzgänger könnte die Kosten um „eher 20 bis 30 Prozent“ verteuern. Das wären, konservativ gerechnet, immer noch mehr als 50 Millionen Euro. Auch wenn der Fokus der Aufmerksamkeit in den Medien gerade auf einer plötzlich aufgetauchten Sparliste des ehemaligen CSV-Familienministers Luc Frieden liegt, der allein durch Kürzungen bei den Erziehungshilfen, den Familienzulagen und einer restriktiveren Vergabe der Dienstleistungsschecks seinerseits 155 Millionen Euro einzusparen hoffte – so viel scheint sicher: Grenzgänger haben auch mit der neuen Regierung nicht gut lachen.