Sind Verhandlungen vor dem Jugendgericht öffentlich oder nicht? Nachdem vorige Woche ein Rechtsanwalt gegenüber Journalisten angeprangert hatte, dass Verhandlungen am Jugendgericht häufig unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfänden, der Justizsprecher dies verneinte und betonte, die Sitzungen vor dem Gericht seien grundsätzlich öffentlich, herrscht Verwirrung.
Denn von Land kontaktierte weitere Anwälte, darunter welche, die seit vielen Jahren Minderjährige juristisch beraten, berichten von ähnlichen Situationen: Seitdem das Gericht aus dem alten Justizpalast in der Rue du Nord ins Seitengebäude auf das Heilig-Geist-Plateau umgezogen ist, würden Türsteher Besucher teilweise pauschal und ohne Angabe von Gründen an der Eingangstür abweisen. Das Land hat den Test gemacht und versucht, eine Sitzung zu besuchen – und wurde prompt ebenfalls vom Türsteher abgewiesen. Der Sicherheitsbedienstete teilte kurz angebunden mit, Sitzungen vor dem Jugendgericht seien prinzipiell nicht öffentlich, er habe da seine Anweisungen.
Doch diese Aussage stimmt nicht, wie Justizsprecher Henri Eippers richtigstellt: „Die Sitzungen sind grundsätzlich öffentlich. So will es das Gesetz und so hat es ein Gerichtsurteil vom 29. Januar 2015 bestätigt.“ Prinzipiell sind Sitzungen der Gerichte offen, solange die Beteiligung der Öffentlichkeit nicht gegen die guten Sitten oder die öffentliche Ordnung verstößt. So sieht es die Verfassung in Artikel 88 vor. Das Öffentlichkeitsgebot soll sicherstellen, dass keine Geheimprozesse geschehen, die Rechte des Angeklagten gewahrt bleiben. Die Öffentlichkeit dient also auch dazu, die Arbeit von Staatsanwaltschaft und Richtern kritisch zu begleiten und zu überwachen. Die Justiz ist nicht unfehlbar. Auch wenn sie das manchmal nicht gerne zugibt.
Für die Sitzungen des Jugendgerichtes ist das im Prinzip nicht anders. Doch gelten für Minderjährige laut Jugendschutzgesetz von 1992 Ausnahmen. So kann ein Jugendrichter entscheiden, die Öffentlichkeit auszuschließen, wenn dies dem Interesse des Kindes oder Jugendlichen dient. Was das im konkreten Einzelfall bedeutet, liegt im Ermessen des Richters. Minderjährige unter 15 Jahren sind prinzipiell nur beim Ermittlungsverfahren und dem Urteilsspruch zugegen, oder wenn sie als Zeugen gehört werden sollen und Richter ihre Anwesenheit für unverzichtbar halten. „Grundsätzlich dient der Ausschluss der Öffentlichkeit dazu, das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen zu schützen. Zum Teil werden ja ganz persönliche Dinge verhandelt. Außerdem braucht ein Minderjähriger einen besseren Schutz als ein Erwachsener“, betont der Kinderrechtsbeauftragte René Schlechter. Das kann beispielsweise Schutz vor Stigmatisierung oder Voyeurismus sein, etwa bei Familienstreitigkeiten oder sexuellem Missbrauch. Eigentlich ziemlich klare Spielregeln. Doch das Ombudskomitee hat wiederholt von Fällen gehört, wo Besuchern der Zutritt zu einer Verhandlung ohne Nennung von Gründen versagt wurde.
Dass die Abwägung zwischen gebotener Öffentlichkeit und Jugendschutz nicht immer so eindeutig verläuft, haben Journalisten des Contacto vor rund sechs Jahren erfahren müssen. Damals hatte ein Journalist der portugiesischen Wochenzeitung darüber berichtet, wie Eltern das Sorgerecht für eines ihrer Kinder entzogen und ihr Sohn per richterlichem Beschluss in ein Kinderheim im Ausland eingewiesen wurde. Der Sozialarbeiter, der damals das entscheidende Gutachten über die Eltern schrieb, fühlte sich durch den Artikel angegriffen und erstattete Anzeige wegen übler Nachrede und wegen Verstoß gegen das Jugendschutzgesetz. Artikel 38 verbietet, „de publier ou de diffuser de quelque manière que ce soit les débats des juridictions de la jeunesse“. Untersagt ist zudem jegliche Verbreitung von Informationen, die dazu führen könnten, die Identität eines Minderjährigen zu enthüllen. Wer dagegen verstößt, muss mit einer Verurteilung zu acht Tagen Haft und einer Geldstrafe zwischen 2 500 und 100 000 Luxemburger Franken rechnen. Mit dem Befehl des Untersuchungsrichters ausgerüstet, rückte die Polizei daraufhin in Räumen der Contacto-Redaktion am Sitz des Luxemburger Wort in Gasperich an und durchsuchte diese. Die Polizisten beschlagnahmten ein Notizbuch, einen USB-Stick sowie weitere Unterlagen und traten auch sonst nicht sehr freundlich auf.
Ein flagranter Verstoß gegen das Pressegesetz, das Journalisten das Recht zusichert, ihre Informanten zu schützen, empörten sich Journalistenorganisationen und der Presserat daraufhin. Dank ihrer Intervention erhielt die Redaktion nach wenigen Tagen ihre Unterlagen zurück, die Affäre landete vor Gericht. Doch die Luxemburger Richter bewerteten den Beschluss des Untersuchungsrichters für richtig und urteilten über zwei Instanzen, die Hausdurchsuchung sei wegen der Schwere der Vorwürfe rechtens gewesen. Der Europäische Gerichtshof schließlich kassierte die überaus extensive Auslegung des Jugendschutzes und erklärte die damalige Hausdurchsuchung für mit dem Prinzip der Pressefreiheit unvereinbar. Das hielt die Luxemburger Justiz aber nicht davon ab, weiter gegen den Journalisten zu ermitteln. Erst 2014 wurde das Verfahren gegen ihn seitens der Staatsanwaltschaft eingestellt; für den Journalisten endeten fünf Jahre Ungewissheit. Der Jugendliche, um dem es in dem Artikel ging, konnte übrigens im Juni 2009 auf gerichtliche Anordnung wieder zu seinen Eltern zurückkehren. Die Richterin kritisierte die Rolle des Staates, der sich zu wenig mit den Problemen des Jungen auseinandergesetzt und ihn einfach ins Ausland abgeschoben habe. Das kritische Nachhaken der Zeitung erwies sich also als berechtigt und zeigt die wichtige Überwachungsfunktion der Presse.
Der Quellenschutz ist ein Kernelement der Pressefreiheit. Wenn Journalisten ihre Quellen preisgeben, wird die Branche diskreditiert. Informanten trauen ihr dann nicht mehr. Missstände können nicht mehr aufgedeckt werden. Das bedeutet aber nicht, dass Journalisten hinsichtlich des Jugendschutzes keinen Regeln unterliegen. Das Pressegesetz sieht in den Artikeln 18 und 19 vor, dass die Identität von Minderjährigen, und insbesondere von jugendlichen Straftätern, auf jeden Fall zu schützen ist. Nicht immer halten sich alle daran. Etwa als ein Boulevardblatt Namen und Foto einer Schülerin veröffentlichte, die sich das Leben genommen hatte. Dabei haben Journalisten einen Verhaltenskodex, den einzuhalten sie sich verpflichten.
Doch was ist, wenn es sich um einen Prozess handelt, der zwar Minderjährige betrifft, aber wo das öffentliche Interesse an Aufklärung enorm ist? Wenn beispielsweise Jugendliche einen anderen Jugendlichen übers Internet mobben und ihm so sehr zusetzen, dass dieser sich selbst verletzt oder gar umbringt, wie in den USA geschehen? Dort war das Medienecho um einen solchen Fall riesig, galt doch der erwartete Richterspruch als Messlatte für zukünftige Verfahren.
Nach dem Luxemburger Jugendschutzgesetz gilt ein pauschales Verbot, über Interna eines Jugendgerichtsverfahrens zu berichten. „Der Artikel 38 des Jugendschutzgesetzes ist ganz bestimmt nicht im Sinne der Pressefreiheit“, kritisiert Roger Infalt, Präsident des Presserats. „Er verbietet uns jegliche Berichterstattung, jeglichen kritischen Blick, jeden Kommentar zu Affären, die vor dem Jugendrichter behandelt werden.“ Der Journalist besteht darauf: Die Presse müsse die Möglichkeit haben, über Affären auch von Kindern und Jugendlichen, wo gegen das Gesetz verstoßen wurde, zu berichten, natürlich ohne die Identität der Betroffenen preiszugeben. „Warum sollte die Presse nicht auch die Möglichkeit haben, verschiedene, manchmal sehr fragwürdige Urteile des Jugendgerichts zu beleuchten beziehungsweise zu kommentieren?“ Dafür müssen Journalisten allerdings die Urteile einsehen können – ebenfalls in anonymisierter Form.
„Es ist eine schwierige Gratwanderung, denn in manchen Fällen kann Öffentlichkeit sinnvoll sein“, findet René Schlechter. „Andererseits ist es in einem so kleinen Land wie unserem schwierig, Leute nicht doch wiederzuerkennen. Der Kinderrechtsbeauftragte hat selbst Urteile von Jugendrichtern gelesen, die ihn „gewundert haben“. So sei in einem Urteil eine Pflegefamilie vom Gericht geradezu „auseinandergenommen“ worden – ohne dass dies Folgen für die Pflegschaft gehabt hätte. „Da sind mir die Hände gebunden“, so Schlechter, der noch auf einen anderen Fall, Mobbing, hinweist. Ein Jugendlicher wurde von der Polizei aus der Schule abgeholt, weil er verdächtigt wurde, böse Kommentare über einen Schüler auf einem sozialen Netzwerk geschrieben zu haben. Die Mutter habe die Vorgehensweise der Polizei beanstandet, weil ihr Sohn dadurch voreilig als Übeltäter abgestempelt worden sei. Auch bei Kindern und Jugendlichen gilt zunächst die Unschuldsvermutung. Von uniformierten Polizisten vor den Schulkameraden abgeführt zu werden, kann stigmatisierend wirken. Nicht nur die Beteiligung der Öffentlichkeit, auch Aktionen von Strafverfolgungsbehörden können dem Jugendschutz also zuwiderlaufen.
Das taktlose Vorgehen von Ordnungshütern haben Kinderrechtler in der Vergangenheit wiederholt kritisiert: die jahrelange unmenschliche Praxis etwa, Flüchtlingskinder in der Schule abzufangen, um sie in ihr Herkunftsland abzuschieben, oder ausgebüchste Heimkinder aus dem Unterricht abzuführen. Als alle Appelle der Menschenrechtskommission nichts halfen, intervenierte sie schließlich beim Premierminister Xavier Bettel, der Abhilfe versprach. Was wiederum zeigt, wie außerordentlich wichtig außer unabhängigen Medien andere Organisationen und aufmerksamen Einzelpersonen, die den Strafverfolgungsbehörden auf die Finger schauen, für den Rechtsstaat sind.
Für die Zurückweisung des Land beim Jugendgericht gab es dann übrigens doch eine Erklärung, die aber erst geliefert wurde, als die Redaktion darauf bestand, den Grund für die strenge Türpolitik zu erfahren: Mittwochs tagt das Vormundschaftsgericht. Und dessen Verhandlungen seien nach Artikel 1 047 der neuen Zivilprozessordnung generell nicht-öffentlich, betont Justizsprecher Henri Eippers. Höchste Zeit, dass auch die Türsteher im Gericht das erfahren, dann können sie die Information freundlich an Besucher weitergeben.