Lang ist die Liste der Länder, die der vielgereiste Autor Guy Helminger schon besucht hat. Indien, Iran, Jemen, Südafrika – die schriftstellerische Arbeit erweist sich für den Luxemburger auch als ein Tor, durch das er in die weite Welt gelangt. Was er auf seinen Reisen sieht und erlebt, hält er später schriftlich fest; in seinem neuesten Werk Die schwere Naht der Flüsse verarbeitet Helminger seine Reise-Erlebnisse in Brasilien, wohin es ihn im Frühjahr 2019 verschlug. Anlass dazu gab die Semana da Língua Alemã, in deren Rahmen der Neubrasilien-Autor eine Reihe von Lesungen an Universitäten und Goethe-Instituten gab.
Seinen Weg bewältigt Helminger in Stationen, hält sich in Großstädten wie Rio de Janeiro und Petrópolis auf, besucht aber auch kleinere, weniger bekannte Ortschaften wie das Munizip São Pedro de Alcântara und durchquert auf seiner Reise einmal das ganze riesige Land, das immerhin fast 48 Prozent des südlichen Teils des amerikanischen Doppelkontinents einnimmt. Schauplätze sind allerlei Gotteshäuser, deren Architektur Helminger ausgiebig beschreibt, um das Erhabene an ihrer Konstruktion, die sie bei aller Unterschiedlichkeit verbindet, in Worte zu kleiden. Den Literaten treibt es aber auch auf Uni-Campus oder in palmenbestückte Innenstadt-Alleen, in Cafés und Fußballstadien, in die als Favelas bekannten Marginalsiedlungen am Rande von Metropolen und schließlich auch aufs Land mit seiner reichen, dschungelhaften Flora und einem Klima, das dem unerschrockenen Wahl-Kölner mitunter zu schaffen macht. Auf seinem Weg lernt Helminger eine ganze Reihe sympathischer Alltagshelden kennen, die ihrer Arbeit trotz aller Widrigkeiten, im Angesicht von Armut, Gewalt oder auch fehlgeleiteter Politik, mit Leidenschaft nachgehen: Joel, der in einem Kinderhort in der Favela Morro Sao Carlos arbeitet, oder die Theaterschauspielerin Milena Moraes, die trotz ausbleibender Subventionen ihren Beruf weiterhin mit Verve ausübt.
Material für einen ganzen weiteren Roman indes liefert Helmingers Aufenthalt in Sao Pedro de Alcantara, der deutschen Kolonie von Santa Catarina. Am Eingang zum Dörfchen Colônia Santana fährt der Globetrotter unter einem bogenartigen Überdach hindurch und betritt damit eine andere Welt: „Die Seitenteile sind weiß verklinkert, rechts auf der Säule ein farbiges Relief einer deutschen, blonden Dame in weißer Schürze, die einen Teig anrührt, links ein grüßender, wie ein Klischee-Bayer aussehender Mann mit Hut und Maßkrug.“ Die Bevölkerung der Kolonie ist, wie sie selbst sagt, stolz – vielleicht sogar maß-los stolz – auf ihre Vergangenheit, ihre deutschen Wurzeln, wobei „deutsch“ einer idealtypischen, in der Zeit eingefrorenen Vorstellung von „bayerisch“ zu entsprechen und „bayerisch“ wiederum für Bier, Brezel und Fachwerkbau zu stehen scheint.
Helminger hält sich in seinem Bericht – leider, muss man sagen – nicht allzu sehr mit sozialtheoretischen Fragestellungen auf, mit deren Hilfe er seinen Text hätte unterfüttern können, sondern lässt die Betroffenen fast gänzlich ohne Kommentar zu Wort kommen: Man müsse akzeptieren, dass es schlicht eine Freude an Tradition gebe, sagt zum Beispiel der Brasilianer Gustavo. Dabei unterscheiden die Dörfler nicht zwischen Regionen, Bundesstaaten oder gar Nationen – so hält ein Mann namens Longino Clasen an den luxemburgischen Besucher gewandt fest, dass in ihren beiden Adern deutsches Blut fließe.
Stilistisch nicht ganz zur Reife gelangt
Wer sich für Brasilien interessiert, kann Helmingers tagebuchartigem Reiseführer durchaus etwas abgewinnen. Und doch weist Die schwere Naht der Flüsse einige Schwächen auf. So wechseln Orte, Personen und Episoden einander in so schnellem Rhythmus ab, dass die Leserin Gefahr läuft, dabei den Überblick und das Interesse zu verlieren. Man fühlt sich von der Erzählquantität an kleinen, auch banalen (man ist fast versucht zu sagen, auch langweiligen) Ereignissen so erschlagen, dass man manchmal Schwierigkeiten hat, das Zentrale vom Nichtigen zu unterscheiden – eine Differenzierung, die eigentlich der Verfasser und nicht der Rezipient vornehmen sollte. Zwar zählt aus der Sicht des Poeten jedes Detail, jedoch muss dieses, um wirklich Wichtigkeit zu erlangen, vom Vereinzelten zum Großen hinleiten, muss über sich selbst hinausweisen.
Auch formal befindet das Werk sich leider nicht auf der Höhe anderer Reiseliteratur aus dem deutschsprachigen Raum. Wer zum Beispiel die als „beiläufige Prosa“ bezeichneten Reiseberichte des berühmten Lyrikers Jan Wagner kennt, weiß, in welche Höhen dieser Zweig der Literatur sich begeben, zu welchem berauschenden Sprachfeuerwerk er erblühen kann. Wer Jan Wagner liest, spannt seine Schwingen aus und bereitet sich vor auf einen Flug, der einen, sofern man die Textzeilen als eingeschwärzte Start- und Landebahnen genau im Auge behält, mit hinreißender Leichtigkeit in alle Ecken der Welt bringt. Leider kann man Ähnliches nicht über Helmingers Werk sagen. Die literarische Ambition des Autors schimmert zwar immer wieder durch, doch wirken die betreffenden Sätze zu pompös, schief, manchmal auch unverständlich: „An einem Hochhaus wachsen die Klimaanlagen, als wäre das Wohnen in dieser Stadt voller Pickel.“ Sprachbilder wiederholen sich und werden damit redundant (zweimal spricht der Autor zum Beispiel davon, dass sich die Nacht draußen in die Hängematte legen würde – was auch immer er damit zu verstehen geben möchte.) Der erste Satz eröffnet das Erzählgeschehen auf äußerst holprige Weise: „Nach fast zwölf Stunden Flug durchzieht den Flieger eine nicht hörbare, ungelenke Melodie klickender Sicherheitsgurte.“ Der Autor springt zwischen Umgangssprache und hohem Ton hin und her, dabei finden die einzelnen Sprachebenen nicht richtig zueinander.
Letzten Endes, um noch eine inhaltliche Kritik anzufügen, stigmatisiert Helminger, der selber gesellschaftliche Missstände anzuprangern versucht, Menschen mit psychischen Erkrankungen, indem er Dinge schreibt wie: „[E]s laufen genug Verrückte umher, Menschen, die nach der Luft greifen und Selbstgespräche führen.“ Demjenigen, der Die schwere Naht der Flüsse aufschlagen möchte, sei also eine kleine Warnung mitgegeben – womöglich lassen sich die Flügel der eigenen Fantasie während der Lektüre nicht ganz weit ausbreiten.