Ist Ihnen bewusst, dass wir näher am Jahr 4000 sind als am Jahr 0? Es ist gar nicht so verkehrt, den Blick in die unbekannte Zukunft zu richten und sich zu fragen, was sein könnte und was sein wird. Ganz so weit zeitlich entfernt spielt Freya Daros Roman Astrea nicht: Wir befinden uns im Jahr 2078 in der modernen, stark hierarchisierten Gesellschaft der sogenannten „Kapselwelt“.
Wàährend der Museumsnacht lernt Théo zufällig eine merkwürdige Frau kennen, die ihn in ihren Bann schlägt. Er verliebt sich Hals über Kopf in sie und nennt sie spontan Astrea, denn sie scheint sich weder an ihren eigenen Namen noch an ihre Vergangenheit zu erinnern. Gemeinsam lassen sie sich durch die Kapselwelt treiben, ziehen durch die Straßen, die Einkaufszentren, die Clubs.
Die Welt, in der Théo lebt, ist der heutigen gar nicht so unähnlich. Doch vor allem die schlechten Seiten scheinen weitergeführt worden zu sein, denn die Kapselwelt ist noch strenger, trister, verdorbener und schmutziger geworden Sie scheint von autoritären Regeln und Verboten bestimmt zu werden: Kunst ist zum Beispiel nur im Museum erlaubt, das Schreiben ganz verboten. Théo Lux, der noch vor dieser modernen Zeit geboren wurde, sieht sich allen Regeln zum Trotz als Schriftsteller und sammelt alles, worauf man schreiben kann: Klopapierrollen, Einkaufszettel oder Post-Its, das einzige Papier, das noch in der Kapselwelt erlaubt ist. Doch die Sittenwächter sind ihm, dem Studienabbrecher, Künstler und Vandalen, auf den Fersen. Er weiß, dass er bald abgeholt werden soll, und entscheidet sich, Astrea nach der ersten gemeinsamen Nacht sitzen zu lassen und zu flüchten. In die verbotene, unerreichbare Außenwelt, die er noch nie gesehen hat …
Auch Astrea hat ein Geheimnis: Sie kommt aus der Außenwelt – und das macht sie nicht nur zu einer natürlich geborenen Frau, und damit zum perfekten Motiv für Théos Fanfiction über seine Geliebte – sondern in den Augen der Sittenwächter auch zu einer Verbrecherin, die um jeden Preis eingefangen und gestoppt werden muss.
Ein bisschen Brave New World, eine Prise Avatar und ein Touch Fahrenheit 451: Im Roman wimmelt es nur vor belesenen und spannenden Ähnlichkeiten zu bekannten literarischen Dystopien. Es ist nicht der erste Roman der 25-jährigen Freya Daro. 2015 erschien ebenfalls bei Éditions Phi der Debütroman Angesichts des schwarzen Lochs, 2016 folgte Sorgenkinder als Online-Publikation und jetzt, 2022, Astrea, ebenfalls bei Phi – eine Überraschung im Programm des vorwiegend auf Französisch publizierenden Verlags.
Astrea ist Dystopie, Liebesgeschichte und lebensbejahende Zeitkritik in einem. Während die Außenweltlerin Astrea die Kapselwelt erkundet und durch die Perspektive einer Fremden die Missstände kritisieren kann, begibt sich Théo immer tiefer und tiefer an den Rand der Außenwelt, der Natur, die es in seiner Zukunftsstadt nicht mehr gibt, die zubetoniert wurde und an deren Rand die Umwelt nurmehr aus Plastikmüllbergen besteht. Sie erkunden wechselseitig die Herkunft und den Lebensraum des anderen. Die Sprache ist dabei dicht und gelungen, und dennoch kommt es durch diesen Aufbau teilweise zu Längen. Die Handlung kommt nicht so recht voran, weil die Entwicklung der Figuren im Fokus steht und auserzählt wird: Sei es das wiederholte Schwelgen von Théo in den allumfassenden Sinneswahrnehmungen der Natur oder die detaillierten Betrachtungen des Stadtlebens durch Astrea, seien es die Rückblicke in Astreas paradiesische, mystisch-märchenhafte Kindheit an der Seite ihres Zwillingsbruders in einem dichten, wilden Wald (hier trifft Jodorowsky Mythologie).
Vielleicht ist das eine der größten Schwächen des Verlags, der sich gerne stärker in die Textarbeit implizieren könnte und Mut haben sollte, ähnliche Wiederholungen oder Längen stärker einzukürzen. Inhaltlich würde nichts fehlen, wenn über ein Fünftel des Romans gestrichen würde – doch insgesamt würde das Buch dadurch viel gewinnen. Denn diese Szenen sind zwar atmosphärisch dicht und sehr sinnlich, aber weniger Teil der Handlung. Sie stellen die Figuren und ihre Welt, ihre Sichtweise in den Fokus, aber dadurch rückt der Spannungsbogen eine Zeit lang in den Hintergrund und in den letzten Teil des Buches. Das ist schade, weil sich einige Leser/innen etwas leichter durch eine langatmige Liebesgeschichte oder diese haptischen Welterkundungskapitel abschütteln lassen werden. Dabei wird doch zum Schluss noch einmal richtig abenteuerlich und es geht nicht nur um den Kampf um die Natur, sondern ebenfalls gegen die Kapselwelt, was in Astrea auf jeden Fall früher hätte aufkeimen können, um zu zeigen, was hier alles auf dem Spiel steht.