Wer hat noch nicht davon geträumt, einfach alles hinter sich zu lassen und wegzugehen. Und zwar gar nicht organisiert, sondern einfach so, in dem Moment, in dem einem der Gedanke kommt. Nicht lange Umzugskisten beschriften und Koffer packen, sondern einfach nur weg. Das ist das Leitmotiv der verschiedenen Geschichten, die sich in Kerstin Medingers Debütroman kreuzen. Sei es die Familiensituation, die für den 17-jährigen Tomás nicht länger zu ertragen ist. Sei es seine ins Schlingern geratene Schriftstellerkarriere und die Alkoholprobleme, die Tadi umtreiben. Oder die Flutkatastrophe, die Luxemburg und Belgien 2021 trifft, Autos wegschwemmt und Häuser überflutet, wie das von Lucie und Simone, die sich daraufhin stillschweigend einig sind: Bloß weg! Sie schwingen sich ins Auto, mieten einen Jeep oder melden sich auf eine Kleinanzeige … und reisen von Luxemburg aus gen Süden, quer durch Frankreich bis nach Spanien.
Le Départ ist der erste Roman von Kerstin Medinger, die, nach einigen Etappen in Bordeaux und Paris sowie in der französischen Verlagswelt, heute Spanisch- und Französischlehrerin am Lycée technique in Ettelbrück ist. Sie schreibt schon länger, hat an Schreibworkshops teilgenommen und Artikel für Le Jeudi sowie Blogbeiträge verfasst.
Der Roman Le Départ wechselt zwischen den Perspektiven der fünf verschiedenen Figuren, springt von einem Ort zum anderen, von einer Figur mit großen Plänen und Herausforderungen zur nächsten. Dieser Polyperspektivismus kreist in allen Geschichten stets um einen gleichbleibenden Ausgangspunkt – den Drang, wegzukommen. Und so ist Le Départ vor allem eine Deklination verschiedener interessanter, sympathischer Figuren in einer gleichen Aufbruchstimmung.
« - Léo, mon chéri ! Simone te l’a expliqué. Nous ne reviendrons plus, c’est comme ça. Il n’y a rien à comprendre. Nous sommes majeures et vaccinées. Non, nous n’avons pas perdu la tête. Nous ne sommes pas séniles, Léo ! Je vais raccrocher, mon fils. Embrasse Manon de notre part ! »
Allmählich, im Laufe ihrer Reise, auf der Suche nach Freiheit, Abenteuer oder Inspiration, lernen sich die Figuren selbst besser kennen und begegnen einander. Dadurch rücken die Geschichten näher aneinander heran, was dem Roman guttut. Anfangs sind die Erzählungen trotz wechselnder Figuren und Perspektiven doch relativ ähnlich, denn der ihnen allen gemeinsame Antrieb ist der Aufbruch und die Lust auf das Ungewisse. Bejahend, energetisierend, kommt hier vor allem Reiselust auf, eine Sehnsucht nach flüchtigen Begegnungen on the road und Sonnenaufgängen. Ab dem Zeitpunkt aber, an dem sich die Wege kreuzen, entsteht eine andere Spannung. Ränke schmieden sich und aus Einzelkämpfern und -kämpferinnen werden Menschen, die sich unterstützen. Denn den Figuren ist auf ihrem Roadtrip immer klarer geworden, dass die Zukunft ungewiss ist. Offen. Frei, voller Möglichkeiten. Aber ab der Begegnung zwischen Tadi, Tomás, Isabelle, Lucie und Simone mit ihrem Kater Proust entstehen gemeinsame Herausforderungen und neue, konkretere Möglichkeiten, die aus klar charakterisierten Figuren eine Welt machen.