Das Wort „menschlich“ trifft wohl am besten den Kern von Maryse Kriers Allen Ernstes. Es ist bereits das dritte Werk der Kremart-Serie Kanephora. Nachdem bereits der erste Band der Serie, drei Monologe von Jean Back, überzeugen konnte, steht Maryse Kriers Sammlung an Kurzgeschichten dem in nichts nach.
Menschlich sind sie, diese überspitzt ironischen Anekdoten, die so oder so ähnlich wohl jedem passieren könnten. Die Protagonisten der Kurzgeschichten könnten die eigenen Freunde, Nachbarn, Bekannten, ja sogar man selbst sein. Wer hat ihn nicht schon geführt, den inneren Monolog, um sich zum Sport zu überreden? Sich von einem jungen Bengel veräppeln lassen? Einen absurden Streit mit seinem Partner geführt? Oder sich mit den Neurosen von Bekannten herumgeschlagen?
Mit viel Witz, Ironie und einer Prise Sarkasmus beschreibt Maryse Krier diese altbekannten Alltagsmomente. Sei es die Joggerin, die sich wundert, wieso die Zeit nicht voranschreitet: „Ein Blick auf die Uhr: erst drei Minuten unterwegs, das kann doch nicht wahr sein. Mit der Uhr stimmt was nicht, muss mir eine neue kaufen.“ Das Paar, das dem Kellner dankt, obwohl es nichts gegessen hat, da dieser es an der Nase herumgeführt hat, „und so bestellten sie bloß die Rechnung, die der Kellner ihnen beflissen brachte, und sie wunderten sich ein bisschen, wieso sie zwei Vorspeisen und keinen Hauptgang gegessen hatten, [...] vergaßen nicht, die Bemühungen des Kellners mit einem angemessenen Trinkgeld zu würdigen“, und verließen das Lokal, „in dem sie so fürstlich gespeist hatten“. Die Haushälterin, die das Haus eines Paares nach und nach übernimmt; ein Paar, das an Naivität kaum noch zu übertreffen ist und diese „Übernahme“ nicht einmal bemerkt: „Abends aßen sie nun meist im Restaurant. Anna hatte sich darüber beschwert, nach einem langen Arbeitstag noch kochen zu müssen. Sie war zwar an den meisten Tagen der Woche weg, [...] aber sie konnten verstehen, dass man Abends keine Lust hatte zu kochen.“ Oder noch die Lehrerin, die ihre Klasse nicht im Griff hat: „Salvenartiges Gelächter und Helga Sands verzweifeltes ‚Ruhe!’ und ‚Sofort alle still’ geht im allgemeinen Lärm unter.“
Maryse Kriers Anekdoten lesen sich mit einem Schmunzeln und sind leicht zu verdauen. Sie sind universell, zugleich fehlt es das eine oder andere Mal aber an Tiefe und sie sind auch schnell wieder vergessen, beschäftigen den Leser demnach nicht über die Lesezeit hinaus. Dadurch ist Allen Ernstes aber auch nach einem langen Tag noch eine willkommene Ablenkung oder eignet sich als angenehme Urlaubslektüre.
Ein paar der Anekdoten stimmen den Leser aber doch etwas nachdenklicher, wenngleich sie nicht sehr zahlreich sind. Insbesondere denke ich dabei an die Kurzgeschichte „Die Autowaschstraße“, die bereits 1993 erschienen ist. Sie beschreibt einen Rentner, dessen Alltag bis ins letzte Detail geplant ist, in dessen Leben es keine Fragen, keine Eventualitäten gibt, sondern nur eine fast zwanghafte Routine. Diese wird jedoch abgelöst von einer Episode, in der der Rentner mit seinem Plan in Verzug gerät und sein Auto statt mit der Hand, in einer Waschstraße wäscht. Eine Unterbrechung der rigiden und neurotischen Routine, die den Rentner derart aus dem Konzept bringt, dass er langsam den Verstand verliert, sein Alltag aus dem Fugen gerät und sein Leben sich nur noch um die täglichen Fahrten durch die Waschstraße dreht. Eine Geschichte, die den Leser schmunzeln lässt, gleichzeitig aber auf die Ängste und Gefühle von älteren, oft aus der Gesellschaft ausgegrenzten Personen aufmerksam macht. „Die Autowaschstraße“ macht die Angst vor dem Altern, dem Kontrollverlust und dem physischen und psychischen Verfall deutlich und zeigt wie wichtig es ist, dass es zu jeder Zeit im Leben „erste Male“ geben sollte.
Eine weitere, sehr aktuelle Erzählung, die es hervorzuheben gilt, ist „Die Qual der Wahl“, die auf sehr überspitzte Weise ein falsches Politikverständnis und eine damit einhergehende populistische und zutiefst egoistische Denkweise entlarvt. Es ist eine Geschichte, die trotz der sarkastischen und übertriebenen Erzählweise ein Phänomen der derzeitigen politischen Entwicklungen in Frage stellt, nämlich wieso populistische Parteien immer mehr Wähler für sich gewinnen. „Die Qual der Wahl“ zeigt, inwiefern deren Argumente und Wahl-Platittüden Anklang finden, wenn man sie nicht zu sehr in Frage stellt und kritisches Denken ein Fremdwort ist.
Maryse Krier beherrscht ihr Handwerk; das verdeutlichen die vielen Wortspiele, die Stilwechsel und ihre Erzählweise. So spiegelt sich der Inhalt der Anekdoten zum Beispiel im Erzählstil wider: Der scheinbar endlose Monolog des Kellners zieht sich als ein einziger Satz über mehrere Seiten, ebenso die wahnwitzige Tirade eines Hypochonders.
Allen Ernstes ist ein gelungenes, unterhaltsames und universelles Werk, das durch seine Authentizität überzeugt. Ein lesenswertes Buch, das im Urlaub nicht fehlen sollte und der Luxemburger Gesellschaft auf den Zahn fühlt, sie auf die Schippe nimmt, ihr den Spiegel vorhält und insbesondere Ignoranz und Engstirnigkeit verhöhnt.