Am vergangenen Dienstag, dem 19. Juli, hat die Luxemburger Literatur mit Jean-Paul Jacobs einen ihrer eigenwilligsten, feinsinnigsten, radikalsten, versiertesten, großherzigsten und liebenswertesten Vertreter verloren. In derselben Woche, in der das CNL die traurige Nachricht von seinem Tod mitteilte, fanden Freunde und Bekannte einen neuen Gedichtband in ihren Briefkästen. fragmente, wie schon einige Bände zuvor im Privatdruck herausgegeben, ist ein letztes Geschenk des Dichters an seine Leser, ein letzter Versuch, sie zu „ergötzen und zu erquicken“, wie es in der programmatischen Preisrede hieß, die Jacobs anlässlich der Verleihung des Prix Servais 2005 in Mersch hielt.
Die Poetik, der sich Jacobs im Anschluss an seinen früheren Mentor und Freund, den Wiener Surrealisten H.C. Artmann, verschrieben hatte, war einem wirkungsästhetischen Ansatz verpflichtet, den Jacobs im Laufe seines Schaffens immer konsequenter vorantrieb und verdichtete. Es zählte die Blickrichtung auf das Schöne und Gute einerseits und den Leser andererseits. Diesen galt es mit Hilfe der Poesie zu erheitern und zu entlasten, ihn anzuregen und zu erheben, ihn regelrecht in Staunen zu versetzen und zu verzaubern. Es ging nicht darum, als Autor seine privatesten Befindlichkeiten vor dem Leser auszubreiten, Mitleid zu heischen oder auch nur Verständnis. Selbst dort, wo Jacobs die Erwartung einer seelischen Innenansicht ins Spiel brachte, brauchte der Leser nach biografischen Anhaltspunkten nicht zu suchen. Ein Band mit dem Titel intimes journal, januar 2016 verzeichnet sogar für jeden Tag des Monats ein Gedicht, mit Ausnahme des Geburtstags des Autors, den eine leere Seite markiert.
Trotz dieser diskreten Zurückhaltung hatte sich Jacobs’ Abschied vom Leben und von der Poesie seit einigen Bänden literarisch angekündigt. Verstärkt traten seit dem zweiten bei Éditions Binsfeld erschienen Bändchen die Themen der Vergänglichkeit (ephemer), des herannahenden Endes (Garten im Winter) und der künstlerischen Hinterlassenschaft (fragmente) hervor. Eine Auseinandersetzung mit diesen Themen verbirgt sich in fragmente zum Teil in der Bildlichkeit einer skurrilen Bukolik, die dem Dichter als Metaphernfundus für seine Reflexionen diente und die sich demjenigen leicht erschließt, der über einige Vertrautheit mit dem Werk der letzten Jahre verfügt. Der erste Text bemüht mit den „marmornen schafen“ eine gern vom Dichter verwendete Metapher für das Gedicht. Diese Schafe vermutet der Dichter in der „weiten landschaft“, in die Tirsis, mythologische Figur aus dem Gefolge der Diana und Adressat des Gedichts, entschwunden ist. Dass sie als Artefakte präsentiert werden, lässt sich als Hinweis auf das Erstarren des poetischen Prozesses lesen, der aufgehört hat, etwas Lebendiges, Veränderliches zu sein, auch wenn das Artefakt selbst, das Gedicht, mit der Hoffnung versehen wird, als etwas Beständiges die Zeiten zu überdauern.
Eine andere Metapher, die Jacobs selbst in seiner Preisrede von 2006 entschlüsselt hat, ist die des Gartens: Sie steht für die Poesie und ihre Funktion, dem „an sich und der Welt leidenden Menschen“ einen Zufluchtsort zu gewähren. „nun steigt die nacht hernieder/ es kommt ein gedicht geweht“, beginnt einer der Texte in fragmente in kaum verhüllter Anspielung, „waren da nicht/ große schöne gärten?/ ach es ist vorbei/ ach es ist vorbeigeweht.“ Das Gedicht lässt sich nicht länger festhalten, die Möglichkeiten zur Gestaltung entschwinden. Noch einmal beschwört der Dichter im anschließenden Text „die großen gärten“ herauf, die mit aller zu Gebote stehenden Kunstfertigkeit vollendet worden sind, „deiner würde gewidmet/ dem schönen und guten/ das du in die welt hineingetragen.“ Die Reminiszenz gilt vielleicht zunächst Friedrich II. und dem Park Sanssouci, wird dann aber unversehens zur Jenseitsvision des Dichters, zu einem Ort des „frieden[s]“ und der „freundlichkeit“, bei dessen Anblick er sagen kann: „du wirst nicht mehr weinen.“
Eine erste Fassung der Gedichte hatte noch mit diesem Vers geendet, mit einem für Jean-Paul Jacobs untypischen Pathos, das in der späteren Fassung durch die nachfolgenden, betont ausgelassenen Gedichte relativiert wird. Der Dichter orientiert sich spaßeshalber am populären Glauben, ein Gedicht sei, wenn es sich reimt, und schustert denkbar holprige Verse über einen „kapitän im ruhestand“ zusammen, der „mild“ gestimmt wird von seinem „caspar david friedrich bild“. Der Sinn dieses Schabernacks ergibt sich im letzten Gedicht: Hier wird ein Kater präsentiert, der sich „monsieur de bommelier“ nennt und von dem es dennoch heißt, er habe sich vom Küchengehilfen zum „berühmtesten sommelier europas“ emporgearbeitet, nicht etwa zu „europas berühmtestem sommelier“. Der absurd naheliegende Reim wird verweigert, der Dichter befreit sich aus den von ihm selbst gesetzten Zwängen, die die letzten sind, die ihn noch halten. Er verlässt uns mit einer als Scherz verkleideten Erinnerung daran, was die Kunst im besten Fall vermag: ein Ort der Freiheit zu sein.