Claudine Muno (geb. 1979) hat sich – in einem breitgefächerten Spektrum künstlerischer Tätigkeit – unter anderem als Autorin zahlreicher skurriler Romane und Erzählungen einen Namen gemacht. Ein Blick in die lange Publikationsliste am Ende ihrer neuesten Veröffentlichung gebietet Ehrfurcht. Umso größeren Respekt muss man vor der Autorin haben, wenn man ihr neues Buch liest, in dem sie es schafft, eine andere Tonart anzuschlagen als gewohnt, ohne jedoch auf typische Elemente ihrer Erzählweise zu verzichten.
Komm net kräischen ist eine „long short story“ über die Liebe eines Mädchens zu einem älteren Mann. Schon im zarten Kindergartenalter begeistert sich Marie für Paul, den verwitweten Vater ihres Nachbarn und Spielkameraden Theo. Einen Großteil ihrer freien Zeit verbringt sie im Nachbarhaus, das entsprechend dem gehobenen Lebensstandard Pauls rechteckig, aber horizontal gebaut ist, nicht rechteckig und vertikal wie das der Eltern. Zu Hause ist das Leben zu grau und zu beengend, Vater und Mutter verstehen sie nicht, streifen ihre Rollen als Eltern nie ab. Paul ist anders: „Hien ass méi e Mënsch wéi e Papp.“
Auch als Jugendliche bleibt Marie auf Paul fixiert. Sie liest heimlich die Bücher, die er auch gelesen hat, beobachtet ihn jeden Morgen vom Fenster ihres Zimmers aus, wie er die Straße entlang zum Bahnhof läuft und zwingt sich, die aufkommenden Spannungen mit Theo durchzustehen, um sich den Zugang zum Nachbarhaus nicht zu verscherzen. Wo sich an Paul Züge zeigen, die ihr nicht gefallen, verklärt sie diese zum Beweis einer Liebe, die trotz aller Widerstände bestehen bleibt. Sie verteidigt so eine unerreichbare Liebe – vor sich selbst – gegen alle Anfechtungen, lässt sie zusehends zur Ersatzreligion werden, zu einem hoffnungslosen Glauben an Nähe und Verständnis, den Marie ansonsten völlig aufgegeben hat.
In der Beschreibung von Maries Jugendjahren wird die Erzählung zur Geschichte eines coming of age in den 1990-er Jahren: Zerrissene Levi’s, die Trostlosigkeit der „Super J“-Partys, mit schwarzem Permanentmarker gefärbte Schuhkappen und Fingernägel – die Zurschaustellung von Weltschmerz und Lebensverweigerung wird einigen Lesern aus eigener Erfahrung ein Begriff sein. Was ein einfaches Jugendbuch hätte sein können, wird stellenweise fast zum Erinnerungsalbum der Generation der heutigen Dreißiger.
Bemerkenswert ist, wie die Erzählung gerade in diesen Passagen meist völlig ohne die Überzeichnung und groteske Loslösung der Bildlichkeit auskommt, die der Leser aus anderen Büchern Munos kennt; ihre Sprache bleibt zurückhaltend und schlicht, so dass einzelne ausgefallene Vergleiche darin gut zur Geltung kommen (z. B. „Den Theo spillt genee esou Piano wéi Tennis, mat aller Kraft. Hie gewënnt um Enn.“). Reflektiert wird diese Sprache in den Überlegungen Maries über das zwischenmenschlich Sagbare, die das Buch durchziehen. Wie sie nach passenden Formulierungen sucht und scheitert, wie sie merkt, wie man Gedanken durch ihre Äußerung verfälscht, wie sie Redensarten und Allgemeinplätze, also eine nur behelfsmäßige Sprache, ablehnt, liest sich als sprachliche Wiedergabe ihrer Vereinzelung und Isolation.
Vielleicht ist es die Reduzierung der Erzählperspektive auf Maries Standpunkt, die dem Leser eine Kehrseite ihres Verhaltens aufzeigt, die die Erzählung höchstens mittelbar vorführt: Einige der Nebenfiguren – Theos Großmutter, seine Freundin, Maries Eltern – bleiben Schablonen, die nicht viel mehr als das stereotype Verhalten an den Tag legen, auf das sie seit ihrer Einführung in die Erzählung festgeschrieben sind. Eine Ausnahme bildet die Mutter Maries, die einmal ganz unerwartet mit einem selbstzerstörerischen Akt aus der Erzählung ausbrechen will und von Marie daran gehindert wird, fast als bevorzuge sie die Klischeemutter gar einer komplexeren Gestalt.
Nicht problematisiert wird ebenfalls Maries Verhalten ihrem Freund Theo gegenüber, den sie von Anfang an als bloßes Mittel zum Zweck einsetzt, in die Nähe seines Vaters zu gelangen. Theo hält ihr bis fast zum Ende die Treue. Der Leser sucht vergeblich nach einem anderen Grund für diese langjährige Freundschaft als Gewohnheit oder die Nähe der Elternhäuser zueinander.
Auch befreit sich die Geschichte selten aus dem Erzählen in typischen Situationen, die dem Leser eine unmittelbare Einsicht in die Dynamik der Figuren versagt. Die einprägsamsten Momente in Komm net kräischen sind konkrete Situationen im Lebenslauf Maries, etwa als sie einen Zierknopf von einem Kissen abreißt, nachdem sie Pauls nackten Bauch gesehen hat, als sie sich bei einer Klassenfahrt in London von ihrer Gruppe absetzt, als sie abends von Paul nach Hause gebracht und zur Rede gestellt wird. Immer wieder aber fällt die Erzählung in Muster von Situationen zurück, in das, was sich nicht einmalig ereignet, sondern sich häufig wiederholt.
Fraglich bleibt am Ende, wo die Autorin mit der Zuspitzung des Verhältnisses zwischen Marie und Paul hin will, nachdem sich Theo seiner neuen Freundin zuwendet und Paul sich seiner jungen Nachbarin gelegentlich allein annimmt. Die Erzählung bricht irgendwann ab, nachdem die Autorin ihre Figuren in eine unmögliche Situation hineinmanövriert hat, in der nicht mehr absehbar ist, was überhaupt noch passieren kann. Immerhin braucht sich der Leser so nicht schlauer zu fühlen als die Figur.