Der erste Staub hat sich nach der Erschütterung vom 23. Juni gelegt. Theresa May ist als Premierministerin schnell in den Sattel gehoben worden – oder aufs herrenlose Pferd aufgesprungen, ganz wie man will. Drei Herren, die vehement für den „Brexit“ geworben haben, sind Außenminister, Handelsminister und Brexit-Minister geworden. EU-Bürgern, die jetzt von ihrem freien Wahlrecht des Arbeitsplatzes Gebrauch machen wollen, wird im Vereinigten Königreich ab sofort kein dauerhaftes Bleiberecht mehr garantiert. Die EU bereitet sich mit Kommissionen auf die Brexit-Verhandlungen vor. Der lange Weg in eine veränderte Europäische Union beginnt in diesen Tagen und Wochen.
Wer sind die Akteure? Was wollen sie? Was wäre für das Allgemeinwohl der Europäer notwendig? Gerade die letzte Frage wird von vielen nationalen Politikern laut gestellt, wenn auch oft verengt auf die eigene politische Ansicht. Ende der Austerität, Kampf der Jugendarbeitslosigkeit, wirtschaftliche Entwicklung, Kontrolle der Einwanderung und gemeinsame Sicherheit: All das soll die EU in Zukunft erfolgreich bewältigen. Sonst, so meinen viele, hätte sie ihre Berechtigung verloren. Damit verlangen sie von der Europäischen Union mehr, als sie zu Hause zu leisten im Stande sind. Abgesehen davon, dass man bei den hohen Haushaltsdefiziten vieler Mitgliedstaaten kaum von Austerität sprechen kann, kann keine Regierung für sich in Anspruch nehmen, alle dringenden Probleme ihres Landes lösen zu können.
Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble spricht vom Rendezvous der EU mit der Wirklichkeit und der Notwendigkeit, jetzt schnell ein paar der drückendsten Probleme zu lösen. Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments, fordert mehr Integration. Die Brexit-Debatte seines Parlaments kommt aber über Allgemeinplätze nicht hinaus. Der Präsident der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker, möchte am liebsten so weitermachen wie bisher. Frankreich, Italien, die iberische Halbinsel und Griechenland können sich einen euro-europäischen Wirtschaftsminister vorstellen, solange er Geld verteilt und die nationale Souveränität nur formal, aber nicht in der Substanz angreift. Die osteuropäischen Länder verteidigen ihre Souveränität in Flüchtlingsfragen mit Klauen und Zähnen, wollen aber weiterhin großzügig von westeuropäischen Subventionen profitieren. Ihre Sicherheit haben sie für den Moment vollständig der Nato anvertraut. Skandinavien, Finnland und die Niederlande wissen nicht so recht, wo sie stehen. Sie spüren aber, dass die Zeiten, in denen sie weitgehend im Windschatten anderer segeln konnten, vorbei sind. Über allem schwebt, oft unausgesprochen, die Frage, welche Rolle Deutschland in einem Europa ohne Großbritannien einnehmen wird.
Den Schock des Brexits haben nicht nur die Politik, sondern auch die europäischen Bürger zu verkraften. Eine Umfrage mehrerer europäischer Tageszeitungen offenbart, dass die Zustimmung zur EU jetzt 20 Prozent höher liegt als 2014. Viele Europäer sprechen sich für eine Konzentration auf die Euro-Zone sowie gegen weitere Erweiterungen aus. Die Basis für diese Aussagen ist allerdings dünn, lediglich 1 000 Personen wurden dafür zwischen dem 28. Juni und 6. Juli befragt. Bemerkenswert: Über 70 Prozent der Franzosen, Italiener und Spanier glauben, dass die Politiker die europäischen Krisen nicht lösen können. So gesehen hat nicht die EU ein Glaubwürdigkeitsproblem, sondern ihre führenden Kräfte. Die Bürger der Gründungsländer der europäischen Integration fordern eine politische und ökonomische Vertiefung der Eurozone. Das gilt sogar für das Nicht-Euroland Polen. In vielen Ländern ist ein Drittel der Wählerschaft weiter strikt gegen die EU.
In den Mitgliedstaaten herrscht der Tenor vor, die EU sei dann gut, wenn sie Probleme löse. Diese Einstellung hört sich vernünftiger an, als sie ist, und das nicht nur, weil jeder eine andere Meinung vertritt, was die Lösungen angeht. Niemand würde so über sein eigenes Land denken. Ungarn abschaffen, weil Ministerpräsident Victor Orban seinen Laden nicht, oder zu stark, im Griff hat? Absurd. Die grundlegenden Vorteile der Zusammenarbeit, des Gemeinsamen Marktes, der vier Grundfreiheiten und des Euros sind so offensichtlich, dass man zwar trefflich über die Ausrichtung der Politik streiten kann, soll und muss. Aber nicht über ihre grundsätzliche Daseinsberechtigung. Was der EU fehlt, ist vor allem Vertrauen. Vertrauen, das die Politiker verspielt haben und das sie nun wiedergewinnen müssen.
Transparenz ist immer der erste Ansatzpunkt, wenn es darum geht, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen. Dazu gibt es nur einen Weg: Die Sitzungen des Ministerrates und des Europäischen Rates müssen zu 100 Prozent öffentlich werden. In einer Demokratie ist dies die erste Verpflichtung aller gesetzgeberisch tätigen Institutionen. Unterbleibt dies, wird die EU auf immer ein zweifelhafter, demokratischer Zwitter bleiben, der sich seiner selbst nie sicher sein kann.
Der zweite Ansatz ist selbstverständlich die konkrete Politik. Vertragsänderungen, so notwendig sie sind, um die Eurozone überlebensfähig zu machen, sind frühestens nach den Wahlen im nächsten Jahr in Frankreich und Deutschland zu erwarten. Die Jugendarbeitslosigkeit kann niemand über Nacht wegzaubern, bei der Regelung der Migration sind die Fronten verhärtet. Würde man versuchen, die europäischen Probleme wieder stärker intergouvernemental zu lösen, würde das die EU angesichts der europäischen Uneinigkeit in fast allen wichtigen Fragen nur weiter untergraben. Die wichtigste unmittelbare Aufgabe bleibt die Absicherung der gemeinsamen Währung. Die europäischen Bürger haben das klar erkannt. Diese kann nur mit einer stärkeren Integration der Eurozone gelingen.