Am 23. Juni stimmte eine Mehrheit der Wähler in England und Wales für einen Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. Eine Mehrheit in Nordirland und Schottland stimmte für den Verbleib in der EU. Das demografische Übergewicht Englands hat am Ende zu einem Stimmenvorsprung von 1,2 Millionen Stimmen für den EU-Austritt geführt. Und dass, obwohl London, das ökonomische Herz des Landes, mit großer Mehrheit für die EU votiert hat.
Es gibt nicht einen Grund für den „Brexit“, es ist ein ganzes Bündel von Gründen. Aber es gibt einen Menschen, der die Hauptverantwortung für die Abstimmung trägt: David Cameron. Er trägt sie nicht allein deshalb, weil er 2013 das Referendum angesetzt hat, um seine konservative Partei innerlich zu befrieden und eine Wahl zu gewinnen. Diese Sicht vieler Kommentatoren ist eine Beschönigung. David Cameron ist der Parteivorsitz der Tories im Jahr 2005 nicht in den Schoß gefallen, er konnte sich nur unter Schwierigkeiten durchsetzen. Er sicherte sich die Zustimmung des EU-feindlichen Teils seiner Partei dadurch, dass er versprach, die britischen Europaabgeordneten aus der Europäischen Volkspartei und deren Fraktion herauszulösen, weil sie zu föderalistisch eingestellt seien. Seinen Willen setzte er nach der Europawahl 2009 gegen eine große Mehrheit der britischen EP-Abgeordneten durch.
Bei seinem Aufstieg zur Macht hat Cameron immer die Anti-Europa-Karte gezogen, um persönliche Vorteile zu erreichen. Gegen Europa zu sein, war sein Steigbügel für das höchste Amt in Partei und Land. Er war nie strategisch gegen die EU, sondern immer nur taktisch. Von Überzeugung keine Spur, von Machtwillen, der auch die Zukunft eines ganzes Landes auf den Spieltisch wirft, wenn es dem persönlichen Ehrgeiz dient, umso mehr. Sein angebliches Ziel, die Tories zu befrieden, hat er zu keinem Zeitpunkt erreicht. Die Partei ist in der Europafrage gespalten wie eh und je.
Die Einwanderungsfrage hat den Ausgang des Referendums entscheidend beeinflusst. Zuletzt kamen gut 350 000 Einwanderer im Jahr ins Land. 2014 lag die Ausländerquote Großbritanniens mit 7,7 Prozent nur ein Prozent über dem EU-Durchschnitt. Alle Statistiken haben unterstrichen, dass Einwanderer mehr Geld in die Sozialkassen einzahlen, als sie daraus bekommen. Aber auf Fakten kam es bei diesem Thema nie an. Am ausländerfeindlichsten haben die Landstriche abgestimmt, in denen der Migrationsanteil am geringsten ist. Dieses Phänomen teilt sich Großbritannien mit den meisten EU-Ländern.
Es ist richtig, dass die innereuropäische Einwanderung seit der EU-Osterweiterung 2005 deutlich sichtbar war. Es ist auch richtig, dass Großbritannien diese Einwanderung demnächst stoppen kann. Experten rechnen damit, dass das Land etwa die Hälfte der EU-europäischen Einwanderer rein rechtlich gesehen wieder ausweisen kann. Es würde den ungehinderten Zutritt zum Binnenmarkt kosten. Wer sich gegen Einwanderer positioniert, fühlt sich häufig machtlos und Entwicklungen ausgesetzt, die er nicht steuern kann. Das entsprechende Schlagwort dafür heißt Globalisierung. Viele sind mit dem unglaublich schnellen Wandel überfordert. Einwanderung und Globalisierung setzen diffuse und konkrete Ängste frei. Die EU, die die Regeln des Gemeinsamen Marktes setzt, bietet sich bei diesem Punkt als Sündenbock an. Zusammen mit der Nostalgie eines unabhängigen, prosperierenden Nationalstaats war das ein unwiderstehlicher Cocktail für eine Mehrheit in der ältesten Demokratie Europas. Dass gerade Großbritannien diesen Gemeinsamen Markt gefordert und gefördert hat wie kaum ein zweites EU-Land, hat auf den großen Inseln die Mehrheit nicht interessiert.
Sündenbock ist die EU aber auch über Globalisierung und Migration hinaus. Sie lässt sich deshalb so leicht für alle Übel Europas haftbar machen, weil sie in ihrer Komplexität und Undurchschaubarkeit nicht verstanden wird. Für beides sind die Mitgliedstaaten direkt verantwortlich. Wo immer sie es können, verstecken sie, wer wie über welches Thema abgestimmt hat. Der Rat tagt, bis auf unwichtige Ausnahmen, nicht öffentlich. Dieses viel kritisierte Gemauschel in Hinterzimmern ist von den Mitgliedstaaten ausdrücklich so gewollt. Wer von Europa spricht, müsste fast immer sagen „die Mitgliedstaaten“, denn sie sind, trotz formalen Vorschlagsrechts der EU-Kommission, die treibende Kraft hinter den Entscheidungen. Entscheidend kommt hinzu, dass eine europäische Regierung weder gewählt noch abgewählt werden kann. Viele, über Großbritannien hinaus, sind nicht mehr bereit, das länger hinzunehmen. Den Merkels, Hollandes, Camerons, Ruttes, Orbans und Renzis (um nur einige zu nennen) ist das gleichgültig. Insofern sind nicht nur „die Engländer“ und David Cameron, sondern ist die gesamte national-europäische Politikerklasse für den Ausgang des britischen Referendums mitverantwortlich.
Um konkrete EU-Politik ging es bei dem Referendum am allerwenigsten. Wichtiger war, dass Großbritannien Nettozahler einer Gemeinschaft ist, die zu wenige wirklich mögen. Das Verhältnis der meisten Europäer zur EU ist ein rein nützliches. Solange die Länder Milliardenzuschüsse aus Brüssel bekommen, wird sich nirgendwo eine Mehrheit für einen Ausstieg aus der EU finden. Wenn jetzt viele nach einem sozialeren Europa rufen und damit vor allem mehr Staatsschulden meinen, ist das nichts anderes. Viel wichtiger ist die Forderung, dass die Europäer auf EU-Ebene die politischen Verhältnisse selbst bestimmen können. Erst dann wird die Union ein Wert an sich, den man zu verteidigen bereit ist.
Betrachtet man die fundamentalen Gründe für den Brexit, dann ist die theatrale Bühne nur Oberfläche. Der persönliche Streit um die Macht zwischen Boris Johnson und David Cameron, Rivalen seit der Jugend, kommt einem shakespeare’schen Leckerbissen gleich und die Verbissenheit eines Nigel Farange wird im Rückblick zur historischen Fußnote werden. Dass Jeremy Corbyn, Vorsitzender der Labour-Partei, mit dem Satz, er liebe die EU nicht, in Erinnerung bleibt, zeigt das Versagen von Labour, deren Politiker es nicht fertig brachten, gemeinsam mit Cameron für den Verbleib in der EU zu werben. Viele Labour-Anhänger wussten nicht einmal, dass die Partei gegen den Brexit war. Die Befürworter der EU hatten keinen überzeugenden Anführer, kein Gesicht, kein Zugpferd. David Cameron war völlig unglaubwürdig. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat es gegenüber der Bild-Zeitung auf den Punkt gebracht: „(...) wenn jemand von Montag bis Samstag über Europa schimpft, dann nimmt man ihm auch am Sonntag nicht ab, dass er ein überzeugter Europäer ist.“