Vergangenen Freitag musste sich jeder halbwegs politisch interessierte Europäer verdutzt die Augen reiben. Ohne dass vorher groß in der Öffentlichkeit darüber diskutiert worden war, hieß es am Freitagnachmittag, die Europäische Union habe die Sanktionen gegenüber Russland verlängert. Eine EU, die nicht in der Lage ist, ihre Grenzen selbst zu schützen. Eine EU, die in fast allen Fragen tief zerstritten ist. Eine EU, in der in sechs Tagen Großbritannien über den Verbleib in der Gemeinschaft abstimmen würde, sollte sich so einfach, sogar ohne eine formelle Tagung des Außenministerrats, über die Verlängerung der Sanktionen gegen Russland geeinigt haben? Das Ganze wirkte, als geschähen noch Zeichen und Wunder.
Zur gleichen Zeit diskutierte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in Sankt Petersburg auf dem 20. Internationalen Wirtschaftsforum mit dem Russlands Präsidenten Wladimir Putin. Matteo Renzi, italienischer Premierminister und ebenfalls anwesend, forderte Anstrengungen von allen Seiten, also auch von der EU, damit die Sanktionen gelockert oder abgeschafft werden könnten. Vor einigen Wochen schon hatte der deutsche Vizekanzler und SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel eine schrittweise Verringerung der Sanktionen im Gegenzug für schrittweise Fortschritte in der Ostukraine beziehungsweise beim Minsk-II-Abkommen gefordert. Eine besondere Stimme erhob am Wochenende der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier, einer der beliebtesten deutschen Politiker und Parteikollege von Gabriel. Er kritisierte das laufende Nato-Manöver, das den Schutz der baltischen Staaten gegen „einen Angriff von außen“ übt, als „Säbelrasseln“, überflüssig und als ein Anheizen der politischen Situation. Dass er sich vorher nicht mit seinen baltischen und seinem polnischen Kollegen abgesprochen hatte, war offensichtlich.
Beim näheren Hinsehen sind am Freitag nur die Sanktionen um ein Jahr verlängert worden, die die Krim unmittelbar betreffen. Diese Wirtschaftssanktionen könnten theoretisch Jahrzehnte in Kraft bleiben, um zu manifestieren, dass die EU die gewaltsame Annexion der Krim nicht anerkennt. Sowohl das Verkaufsverbot in der EU von Gütern, die auf der Krim hergestellt wurden, als auch das Anlegeverbot von Kreuzfahrtschiffen, wären kein Hindernis für florierende russisch-europäische Wirtschaftsbeziehungen.
Wichtiger sind die Sanktionen, die am Dienstag um sechs Monate und vielleicht zum letzten Mal verlängert wurden. Sie betreffen die grundsätzliche wirtschaftliche und finanzielle Zusammenarbeit zwischen Russland und der Europäischen Union, und es sind diese Sanktionen, die durchaus Auswirkungen auf den Zustand der russischen Wirtschaft haben. Italien, das sich von den großen EU-Mitgliedstaaten am heftigsten gegen diese Sanktionen gewehrt hatte, soll seinen Widerstand gegen eine Verlängerung auf dem G7-Gipfel Ende Mai in Japan aufgegeben haben. Entsprechend tauchte die Verlängerung der Sanktionen nicht einmal mehr namentlich auf der Agenda des Treffens der EU-Außenminister auf. Der Punkt dürfte sich unter den A-Punkten versteckt haben. Das sind die Punkte, auf die sich die Ständigen Vertreter der EU-Mitgliedstaaten schon im Vorfeld von Ministerratstagungen geeinigt haben.
Es ist interessant, wie sich die Argumentation bei den Sanktionen in den letzten zwölf Monaten verändert hat. Ging es zu Beginn um den russischen Rückzug von der Krim, so geht es heute nur noch darum, dass Russland dafür sorgt, dass das Minsk-II-Abkommen umgesetzt wird, das unter anderem die volle Rückgewinnung der ukrainischen Souveränität über die ukrainisch-russische Grenze, eine größere ostukrainische Autonomie und international kontrollierte Kommunalwahlen (und nicht mehr!) vorsieht. Mit dieser Schwerpunktveränderung haben wichtige EU-Mitgliedstaaten die implizierte Anerkennung der Krim-Annexion schon vorweggenommen. Zeigte Putin nur ein Mindestmaß von Entgegenkommen und Verlässlichkeit, würden ihm viele europäische Politiker liebend gerne wieder in die Arme fallen. Je weiter westlich von Russland sie wohnen, desto bereitwilliger.
Europa versäumt es, Putins Charakter, seine Politik und die russische Politik insgesamt ganzheitlich zu betrachten. Denn nur der Blick auf das Ganze offenbart in aller Klarheit, dass Russland allein nach seinen Taten und nicht nach seinen Worten beurteilt werden darf. In der Ostukraine gibt es immer wieder Kämpfe. Offiziell hat Russland nichts damit zu tun und liefert weder Waffen noch stellt es Soldaten. Ebenso wie 2014 auf der Krim.
Dort wurde inzwischen ein Denkmal für russische Helden errichtet, die bei der Eroberung gestorben sind und die es eigentich gar nicht geben dürfte. In Syrien bombardiert die russische Luftwaffe nach wie vor am liebsten die Verbündeten der Türkei und der Vereinigten Staaten, also die Gegner des syrischen Präsidenten Baschar al Assads, des größten Menschenschlächters unserer Tage. Die russischen Hooligans, die sich in Frankreich gewalttätig benommen haben, werden in den russischen Medien hofiert. Systematisches, staatlich unterstütztes Doping führt zum Ausschluss der russischen Leichtathleten bei Olympia und wird systematisch geleugnet. Jüngsten Gerüchten aus deutschen Geheimdienstkreisen zufolge sollen russische Hacker in Staatsdiensten Angriffe des Islamischen Staates auf westliche Staaten fingiert haben. Die Reihe ließe sich fortsetzen.
So gerne die EU friedliche Beziehungen zu Russland hätte, so unwahrscheinlich ist es, solange Putin die russische Politik bestimmt. Das einzige Wunder, von der die zeithistorische Geschichtsschreibung zu berichten weiß, ist der Beginn der europäischen Integration in den 1950-er Jahren des letzten Jahrhunderts. Wie gefährdet sie ist, zeigt unter anderem das Referendum diesen Donnerstag über den Brexit.