Deutschland lacht sich ins Fäustchen. Ganz ehrlich. So ist es. Und nicht anders. Bundeskanzlerin Angela Merkel, bislang als große Aussitzerin bekannt, macht beim Brexit ernst: „Ich sehe keinen Weg, das wieder umzukehren“, sagte sie am späten Dienstagabend nach dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschef der Europäischen Union in Brüssel. Alle täten gut daran, die Realität zur Kenntnis zu nehmen, so die Kanzlerin. Sie rechne fest damit, dass Großbritannien nach dem Referendum nun einen Austrittsantrag nach Artikel 50 des EU-Vertrags stellen werde, auch wenn der Zeitpunkt jetzt noch nicht feststehe. Denn: Dies sei nicht die Stunde von „wishful thinking“.
Doch offiziell bemüht man sich um Gelassenheit und weiß um die engen wirtschaftlichen Verbindungen zwischen Großbritannien und Deutschland. Denn nach den USA und Frankreich gehen die meisten deutschen Exporte in das Vereinigte Königreich. Mehr als 2 500 deutschen Unternehmen unterhalten dort eine Niederlassung, in denen 370 000 Mitarbeiter beschäftigt sind – immerhin mehr als ein Prozent der Erwerbstätigen in Großbritannien. „Deutschland wäre wahrscheinlich der größte Verlierer eines Brexit, abgesehen von Großbritannien selbst“, warnte Clemens Fuest, Leister des Instituts für Wirtschaftsforschung (ifo), bereits im Vorfeld des Referendums. Ein Austritt träfe die gesamte deutsche Wirtschaft. Auch Holger Schmieding, Chefvolkswirt der Berenberg Bank, erwartet nun einen „wirtschaftlichen Rückschlag“.
Doch wie schwer dieser ausfallen wird, mag niemand sagen, denn noch ist es unklar, welche Handelsvereinbarungen nach dem Brexit wegfallen und welche durch neue Abkommen ersetzt werden. Vom Finanzplatz Frankfurt kommen unverhohlene Zeichen, dass man nun den lästigen Konkurrenten von der Insel abgeschüttelt hat und sich wohl zum wichtigsten Bankenstandort in der EU aufschwingen wird. Zum Wohle der heimischen Wirtschaft. Der Trierischer Volksfreund macht einen weiteren Gewinner aus: Auch dem Standort Luxemburg käme mehr Bedeutung zu, hieß es in der Tageszeitung zu Beginn der Woche, und das verheiße einen weiteren Boom für die regionale Immobilienwirtschaft. Die Ortsgemeinde Trassem beeilte sich derweil damit, ein weiteres Neubaugebiet auszuweisen, auf dass sich die heimischen Landbesitzer bald ihre Scheibe vom Brexit abschneiden können.
Wichtig sind für Berlin vor allem aber die Veränderungen auf politischer und geopolitischer Ebene. Zwar weiß Angela Merkel darum, dass mit dem Ausstieg Großbritanniens die gesamte Union geschwächt wird – und was die EU schwächt, schwächt auch Deutschland. Innerhalb der EU verliert Merkel in wirtschaftspolitischen Fragen ihren wohl wichtigsten Verbündeten. Doch auch einen wichtigen Wettbewerber, wenn es um die internationale Aufmerksamkeit, Investitionen und Ansprache geht. Deutschland wird vor allen Dingen in den transatlantischen Beziehungen vom Brexit profitieren. War bislang London wichtigster europäischer Verbündeter der USA, so warnte US-Präsident Barack Obama vor dem Ausscheiden Großbritanniens aus der EU. Im Kampf gegen den Terrorismus, zur Stärkung der Wirtschaft und bei der Schaffung von Arbeitsplätzen könnte London als EU-Mitglied mehr beitragen als allein, lautete es aus Washington. Berlin hingegen präsentiert und positioniert sich als verlässlicher Partner – und wird noch weiter aufgewertet, denn die USA sehen in Deutschland einen Garanten für den weiteren Zusammenhalt der Europäischen Union.
Und wie hält es Beijing? Im Herbst vergangenen Jahres machte Chinas Präsident Xi Jinping London seine Aufwartung und wurde mit Pomp und Gloria empfangen. Galt bis dahin Berlin als wichtigster Ansprechpartner mit dem man sich alljährlich zu Regierungskonsultationen auf Kabinettsebene austauschte, so sollte Großbritannien diese Rolle fortan übernehmen. China wollte damit seinen Wandel von der Industrienation zur Dienstleistungsgesellschaft deutlich machen und erhoffte sich vom Königreich mit der Wirtschaftsmetropole London wesentliche Impulse. Doch nach dem Brexit-Referendum wird sich dies aller Voraussicht nach ändern und Berlin könnte sich wieder ins Spiel bringen. Der Brexit wurde nun kurzfristig zum Mittelpunkt des Wirtschaftsforums „Sommer Davos“, das am Sonntag in Tianjin nahe Beijing beginnt. Auf der Veranstaltung wird am Montag Chinas Premier Li Keqiang eine Rede zur Wirtschaftspolitik seines Landes halten und dabei sicherlich auch auf den Brexit eingehen.
Angela Merkel macht derweil auf Führung. Und drückt aufs Tempo. Vor dem Gipfel dieser Woche hat sie den französischen Präsidenten François Hollande und Italiens Premier Matteo Renzi nach Berlin eingeladen. Nicht nach Rom, wo eigentlich alles begann. Ohne das Vereinigte Königreich wird Deutschland zum Hegemon in der EU – wishful thinking.