Vaterland. Nation. Patriotismus. Dies sind die derzeit wichtigsten Vokabeln in der politischen Diskussion in Europa. Ob beim „Brexit“ in Großbritannien, zu den Wahlen in Spanien oder bei der AfD in Deutschland. Es geht hier wie dort ausschließlich um nationale Befindlichkeiten, die Zustimmung bringen und den Machterhalt sichern. Nicht nur bei rechten Parteien, seien sie populistisch oder extremistisch, sondern auch – und das überrascht – bei Parteien der Linken, seien sie kommunistisch oder sozialdemokratisch. Die Nation erlebt auch im linken politischen Spektrum eine Renaissance. Zu welchen Kosten auch immer.
Ganz deutlich zeigte dies der Wahlkampf in Spanien: Der aufkeimende EU-Skeptizismus in der Bevölkerung wird in politische Parolen umgemünzt. Dabei klaute die spanische Linke den Konservativen deren Begrifflichkeiten und deutete sie um: Das neue „Vaterland“ werde sozialer und solidarischer sein, offen für alle, auch für Migranten, die sich mit der linken Idee identifizierten, hieß bei einem Wahlkampfauftritt von Podemos-Vordenker Pablo Iglesias Turrión in Madrid. Podemos – übersetzt: „Wir können“ – ist die neue linkspopulistische Partei Spaniens, die aus der Protestbewegung 15-M aus dem Winter 2011/12 hervorgegangen ist.
Podemos schafft es, die Stimme des Volkes in Politik umzusetzen. Spanien hat sich zwar etwas von der Krise erholt, aber die Menschen haben den Apparat und die darin agierende Elite des Landes zunehmend satt: Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei rund 45 Prozent – und wer eine Arbeit hat, verdient wenig und muss viele unbezahlte Überstunden leisten, um den Job zu behalten. Und das alles in einem Land, in dem Politiker gratis Kreditkarten zugeschanzt bekamen, mit denen sie sich und ihren Angehörigen ein Luxusleben leisten konnten. Gegenleistung: Bei der ein oder anderen öffentlichen Auftragsvergabe wurde ein Auge zugedrückt. Oder zwei. Diese Unzufriedenheit mit dem System wird dann von den Politikern gerne auf eine supra-nationale Ebene übertragen. Vorgeblich um Dinge nicht ändern zu können, die man aber ändern müsste – sowohl in der nationalen Politik als auch in Brüssel. Es beginnt dann die Suche nach dem Sündenbock, die sich in der Europäischen Union wesentlich leichter gestaltet, als im eigenen Land. Dieser ist schnell gefunden und heißt wahlweise Deutschland oder besser noch: Angela Merkel. Dabei verwundert, dass Politiker, die im Nationalismus ihr Heil suchen, es Berlin verwehren, ebenfalls nach Eigeninteresse zu handeln und verhandeln.
Die europäische Sozialdemokratie ist in der Krise. In einer tiefen Krise der Identität. In vielen EU-Staaten – etwa in Spanien, aber auch in Deutschland – war die gemäßigte Linke in Regierungsverantwortung, als die existenzielle Krise in der Union begann. Sie leiteten harte Reformen ein oder trugen diese mit. Sie stützten mit ihrer Politik Banken und Industrie, vergaßen die Menschen darüber. Viele Wähler glauben den traditionellen Arbeitnehmerparteien nicht mehr, dass diese noch linke Interessen vertreten.
Die Politik lässt sich nicht mehr von Ideen und Vi-sionen leiten, sondern von Befindlichkeiten; sie agiert nicht mehr, sondern reagiert nur noch. „Wir bieten der Unzufriedenheit mit dem System und dem sozialen Schmerz eine Stimme“, sagt der Podemos-Abgeordnete Pablo Bustinduy. Und er fügt hinzu: „Der Brexit ist eine sehr traurige Nachricht. Aber symptomatisch für die soziale und wirtschaftliche Krise der EU. Sie muss ihre Fehler endlich eingestehen.“ Seine Prognose lautet demnach, wenn Europa sich nicht sozialer aufstelle, werde die Schlange derer, die das Projekt verlassen wollten, größer werden. Ein Bekenntnis der Solidarität mit dem vereinten Europa und der europäischen Idee aber vermeidet er. Podemos wolle vielmehr gemeinsam mit Frankreich, Italien und Portugal sowie Griechenland an einem linkeren Europa arbeiten. Bustinduy: „Der Unterschied zu Griechenland ist: Wir sind die viertgrößte Wirtschaftsnation im Euroraum. Sie werden uns zuhören.“ Ähnlich denkt und handelt die größte Wirtschaftsnation in der Union.
Der europäischen Sozialdemokratie wurde schon oft ein Abendlied gesungen, am lautesten wohl von Ralf Dahrendorf mit seinem „Ende des sozialdemokratischen Zeitalters“. Ein Grund dafür mag sein, dass die Sozialdemokratie nicht mehr weiß, was sie mit Europa eigentlich anfangen soll. Das ist ein Paradoxon. Denn keine andere Partei braucht die europäische Integration so sehr für ihre politischen Ziele wie die gemäßigte Linke. Dazu muss jedoch eine fortschrittliche Idee von Europa und der EU gedacht werden. Viele Bürgerinnen und Bürger der Union sehen in der Staatengemeinschaft vor allen Dingen ein gewaltiges, intransparentes Wirtschaftsprojekt. Die Linke setzt keine attraktive Alternative, kein progressives Konzept von Europa dagegen, sondern setzt vielmehr auf eine euroskeptische Abwehrhaltung, die sich zu oft in nationalen Floskeln ergeht.