Kino

Verrat als Gnade

d'Lëtzebuerger Land vom 10.01.2020

Der neue Film von Marco Bellochio, Il traditore, der 2019 in Cannes im Wettbewerb präsentiert wurde, stützt sich auf die Biografie des berühmten sizilianischen Mafiaangehörigen Tommaso Buscetta, einem der ersten Informanten, dessen Aussagen in der Folge über dreihundert Mafiaanhänger überführten: Anfang der 1980er-Jahre spitzen sich die Machtkämpfe der rivalisierenden Oberhäupter der sizilianischen Mafia zu. Tommaso Buscetta (Pierfrancesco Favino), immer noch ein respektiertes Mitglied der Cosa Nostra, hat sich nach Brasilien abgesetzt. Derweil wüten in seiner Heimat die Fehden zwischen den Clans. Nach seiner Verhaftung und Auslieferung nach Italien bringt Buscetta die Mafia in äußerste Bedrängnis: Er will vor Richter Giovanni Falcone (Fausto Russo Alesi) sein Schweigegelübde brechen, das er einst für die Cosa Nostra ablegte...

Der italienische Regisseur reiht sich mit diesem jüngsten Werk, das rund zehn Jahre aus dem Leben Buscettas wiedergibt, augenfällig in die Tradition großer Mafia-Epen wie The Godfather (1972) und doch ist Il traditore etwas anderes. Es gibt keinen Pferdekopf im Bett, keine Familie, die auf den Stufen einer Kirche niedergeschossen wird - dies ist zuvorderst ein aufschlussreiches Porträt der Cosa Nostra im Film. Solide dokumentiert und ein sehr sachlicher Zugang machen aus Il traditore einen eher beschreibenden Film mit einer bewusst mechanischen Erzählung, der es mitunter an einer wirkungsvollen fiktionalen Dynamik fehlt. Der mittlerweile 80-jährige Bellochio wühlte die italienische Filmkultur 1965 mit seinem I pugni in tasca (Mit der Faust in der Tasche) gehörig auf und zeichnete das bedrückende Bild einer dysfunktionalen Familie. Es ist nunmehr die kriminelle Familie, die aus den Fugen gerät und mit der Buscetta sich nicht mehr identifizieren kann. Die Loyalitätsfrage ist für ihn nicht mehr problemlos zu bewältigen; der Verräter ist hier ein Mann, der in seiner Situation zwischen den Fronten auch an die Grenzen der eigenen Identität gerät. Auf der einen Seite ist es vor allem die Vernunft, die ihn leitet, auf der anderen ist diese unauflösbar mit einem Rachegedanken so verbunden, dass eine moralische Position nie zu transparent wird.

Die Frage nach Gut und Böse stellt sich für Bellochio nicht wirklich, er ist vielmehr fasziniert von der emotionalen Kälte und vor allem von der Mechanik der beidseitigen Rache. Diese zwei grundsätzlichen Perspektiven auf den Helden fördern die Mischung von Argwohn und Respekt. Dieser Buscetta ist gewiss kein strahlender Held, aber das Einstehen für eine gerechte und aufrechte Sache gibt ihm Gelegenheit, Werte wie seine Ehre, seinen Gerechtigkeitssinn, seinen Patriotismus und seine Loyalität durchscheinen zu lassen. Auch die respektvolle Haltung gegenüber der Justiz wird deutlich beschrieben. Demgegenüber bedient sich Regisseur und Drehbuchautor Marco Bellochio in Bezug auf das Porträt der großen Mafiosi der klassischen Vorbilder aus der Geschichte des Genres und unterzieht so dieses Kapitel der italienischen Geschichte einer stellenweise nahezu ironischen Retrospektive. Die Mafia ist im Angesicht des Gesetzes fast hinfällig, es wirkt mitunter beinahe so als vollziehen sogar deren einflussreichste Mitglieder nur noch unbeholfene, unreife Kinderspiele.

Worum es in dieser Erzählung vom Einzelgänger gegen das System aber über die bloße Spannungsdramaturgie hinausgeht, ist die Verbindung von Politik und organisiertem Verbrechen. Und hinsichtlich dieser Verbindungen ist in einigen Kurzauftritten auch der siebenmalige Premierminister Giulio Andreotti zu sehen, der der Verbrüderung mit der Mafia beschuldigt wurde. In diesem Film, in dem es die Durchdringung von Fiktion und Realität in gewohnter Weise gibt, erscheint er als Exempel eines zwielichtigen Staatsoberhauptes, dessen Schweigsamkeit und gebrechliches Äußeres ihn als schwächelnden Politiker zeigen. Bellochio beschwört in alledem eine düstere Endzeitstimmung und Nicola Piovanis Musik trägt erheblich zu dieser Atmosphäre bei. Il traditore erzählt von Loyalitätskonflikten, Machtstrukturen und Werteverlusten in einer Gesellschaft, in der sogar der Verrat in letzter Konsequenz wie ein Akt der Gnade wirkt.

Marc Trappendreher
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