Zenith heißen die beiden Hochhäuser, die im neuen Stadtteil Cloche d’Or nicht weit von dem großen Einkaufszentrum stehen. Sie könnten zu einem Symbol für einen Wandel in der Gesundheitsversorgung werden, der Ende 2019 ihren Anfang nahm.
Etienne Schneider heißt der für die Gesundheit zuständige Minister von der Sozialistischen Arbeiterpartei. Seine Rolle bei Änderungen in der Gesundheitsversorgung ist logischerweise groß. Fragt sich nur, welche genau es am Ende gewesen sein wird. Für seine Partei steht viel auf dem Spiel.
In einem der beiden Türme in Cloche d’or soll auf drei Etagen ein Medizinisches Zentrum einziehen. Eines der drei Stockwerke ist für ein Radiologisches Zentrum reserviert, für welches der Radiologe Renzo Del Fabro im Oktober 2017 einen Kernspintomografen (IRM) kaufen wollte. Wenig später wurde er öffentlich bekannt, weil er vor dem Verwaltungsgericht Klage gegen die Entscheidung der damaligen Gesundheitsministerin Lydia Mutsch (LSAP) erhob, die den Kauf untersagt hatte: Eine großherzogliche Verordnung beschränkt den Einsatz von IRM auf Spitäler.
Weil 2017 in den Medien monatelang von unzumutbaren Wartezeiten auf einen IRM-Termin die Rede war und die Gesundheitsministerin einräumen musste, in nicht dringenden Fällen könnten das bis zu sechs Monate sein, traf die Gerichtsaffäre einen Nerv. Nicht nur in der Bevölkerung: Im Gesundheitsministerium und in der CNS sah man politische Probleme drohen. Hinter vorgehaltener Hand wurde erzählt, der Radiologe werde den Prozess vermutlich gewinnen. Am
5. Juli war es im Grunde schon so weit: Da erklärte das Verfassungsgericht die Beschränkung der Apparate auf Spitäler für verfassungswidrig. Es überraschte nicht, dass das Verwaltungsgericht am 9. Dezember die Entscheidung Lydia Mutschs von vor zwei Jahren annullierte. Nun könne jeder Radiologe Apparate kaufen und betreiben, sagte Renzo Del Fabros Anwalt André Lutgen anschließend dem Land. „Kein Text kann das verbieten.“
Damit ist die Geschichte aber noch nicht zu Ende. Einerseits, weil es in dem Urteil vom 9. Dezember nicht um einen IRM-Apparat geht, sondern um einen Computertomografen, einen CT-Scanner. Einen solchen für das Ärztehaus im Ban de Gasperich zu kaufen, hatte Radiologe Del Fabro ebenfalls beantragt, von Lydia Mutsch verwehrt bekommen und dagegen geklagt. Zum IRM wird das Urteil im Januar erwartet.
Freilich ist das eher ein Detail, denn dass die Richter anders entscheiden als vergangene Woche, ist höchst unwahrscheinlich. Anwalt Lutgen hat „keinen Zweifel“, dass dieses Urteil ausfällt wie das zum Scanner. „Der Anwalt der staatlichen Seite hat nichts Neues vorbringen können.“
Damit beginnen die politischen Probleme für den Gesundheitsminister, weshalb die Geschichte ebenfalls noch nicht zu Ende ist. Besser gesagt: Die Probleme werden konkreter. Illusionen wegen der Gerichtsaffären hatte Etienne Schneider sich schon zu seinem Amtsantritt keine gemacht und begann, präventiv tätig zu werden. Er erklärte, es könne „nicht sein, dass in einem reichen Land wie Luxemburg“ die Wartezeiten auf einen IRM-Termin lang sind (d’Land, 19.4.2019). Er sagte, was auch im Koalitionsprogramm steht: Eine „Integration“ zwischen Spitälern und ambulantem Bereich müsse geschaffen werden. Und er meinte, in Letzterem könne es entweder Praxisgemeinschaften geben oder „Antennen“ von Kliniken. Antennen seien ihm lieber, doch er lege sich da noch nicht fest.
Welchen Ansatz er mittlerweile verfolgt, hat Schneider zumindest öffentlich noch nicht mitgeteilt. Am Montag erkundigten sich die CSV-Abegeordneten Claude Wiseler und Laurent Mosar in einer parlamentarischen Anfrage danach. Sicher ist: Der Ansatz müsste weitreichend sein. Denn auf der Liste der auf Spitäler beschränkten Anschaffungen stehen nicht nur IRM und CT-Scanner, sondern 21 Apparate und Verfahren. Darunter die „Künstliche Niere“ und so genannte stereotaktische Technik für neurochirurgische Eingriffe innerhalb des Gehirns. Dass eine Vollnarkose nur in einem Krankenhaus verabreicht werden darf, steht dort auch. Wenn das Urteil der Verwaltungsrichter nach 40 Tagen rechtskräftig wird und Schneider nicht in der Zwischenzeit Berufung einlegt oder irgendeine andere Regelung zu treffen schafft, werden alle 21 Apparate und Verfahren frei. Und während es unwahrscheinlich sein mag, dass ein Arzt eine Künstliche Niere für sein Cabinet kauft, hat zumindest eine Anästhesistin aus Esch/Alzette im August beantragt, die zur Verabreichung einer „Anesthésie générale“ nötigen Gerätschaften kaufen zu dürfen. In seiner Antwort vom 17. Oktober verwies Etienne Schneider einerseits auf die Liste, andererseits auf die schwebenden Gerichtsverfahren, und schloss: „Toutefois, je m’apprête à modifier les dispositions légales et réglementaires en question dès que le jugement du Tribunal administratif aura été rendu.“
Fragt sich natürlich, worin die „Modifikation“ bestehen wird. Der Ärzteverband AMMD wirbt seit Monaten ziemlich aggressiv für eine „Dezentralisierung“ aus den Spitälern in den ambulanten Bereich, soll heißen: in spezialisierte Gemeinschaftspraxen. Dafür erscheint das Projekt in Cloche d’or wie ein Prototyp: Dem Text des Urteils vom 9. Dezember ist zu entnehmen, das Medizinische Zentrum sei „destiné à accueillir un large panel de médecins de diverses spécialités, à savoir notamment des cardiologues, des orthopédistes, des gynécologues, des neurologues et des dermatologues“. Ein Analyselabor sei ebenfalls vorgesehen. So dass man sich das Vorhaben, hinter dem Flavio Becca, dem der private Teil des Ban de Gasperich gehört, mit seiner Entwicklungsgesellschaft Grossfeld SA steht, wie eine kleine Poliklinik vorstellen kann. Wie man es sich genau vorstellen soll, möchte Grossfeld nicht erläutern: Zurzeit sei das „verfrüht“, schreibt Michel Knepper, Operative Director von Grossfeld, in einer E-Mail.
Was damit zu tun haben mag, dass das Urteil in Sachen IRM noch aussteht. Vielleicht aber auch damit, dass die politische Lage komplex ist. „Monopol“ für die Spitäler ist eine treffende Bezeichnung: Dass schwere Technik auf sie beschränkt ist, ist einer der Deals, die das Luxemburger Gesundheitssystem ausmachen. Das Technik-Monopol bindet einerseits die betreffenden Ärzte an Krankenhäuser. Andererseits steht die Technik ihnen dort kostenlos zur Verfügung, denn bezahlt wird sie zu 80 Prozent aus der Staatskasse und zu 20 Prozent von der CNS. Für die Luxemburger Ärzte, die überwiegend Freiberufler sind und Belegärzte in Spitälern, war dieses Angebot jahrzehntelang interessant genug, um als Gegenleistung unentgeltliche Bereitschaftsdienste zu erbringen. Doch dieses Prinzip funktioniert immer schlechter. Die Dienste sind anstrengend, und in so manchen Fachrichtungen können Ärzte in der Praxis genug verdienen und brauchen kein Spital.
Deshalb muss, wer Geräte freigeben will, auch dafür sorgen, dass das die Krankenhausversorgung nicht schwächt. Und sagen, inwiefern das Angebot in Zukunft reguliert werden soll, wenn der bisher geltende Mechanismus verfassungswidrig ist. Er ist es, weil er unklar abgefasst ist, wie Deals das oft sind: Die erwähnte Liste steht seit 1993 Jahren unverändert in einem Règlement grand-ducal, und das übergeordnete Gesetz sagt nicht, wieso und unter welchen Bedingungen eine Verordnung Beschränkungen enthalten soll. Beschränkungen eines Berufs, dessen freie Ausübung die Verfassung schützt.
Die Anwälte des Cloche d’or-Projekts greifen die nun für verfassungswidrig erklärte Regelung aber von noch einer Seite an: Im Januar, im IRM-Urteil, könnten die Verwaltungsrichter sich auch zur EU-Rechtslage äußern. Da Niederlassungsfreiheit im EU-Ausland zu einer der Grundfreiheiten in den EU-Verträgen zählt, und Luxemburg keine eigenen Radiologen ausbildet, sondern auf Ärzte aus dem Ausland angewiesen ist, argumentieren die Anwälte, dass ein Monopol für die Spitäler auch die Niederlassungsfreiheit von Ärzten einschränke. „Wir ziehen außerdem eine Klage vor der EU-Kommission in Betracht“, so André Lutgen. Was die mit der Klage macht, ist zwar ihr überlassen. Ein Wink an den Gesundheitsminister, die EU-Freiheiten zu bedenken, ehe er eine neue Regelung herausbringt, ist das aber allemal.
Den Patienten könnte eine Liberalisierung auf den ersten Blick recht sein. Wären mehr medizinische Leistungen auch außerhalb von Kliniken erhältlich, würde sich das Angebot nicht nur größer, sondern vielleicht auch geografisch breiter. Zu IRM lagen Anfang 2018 noch sieben bis acht weitere Anträge im Gesundheitsministerium vor. Innovationen könnten auf diesem Weg ebenfalls eingeführt werden, argumentieren Lutgen & Associés, die das Projekt Centre médical in Cloche d’or juristisch betreuen: Zu dem ausgedehnten Gerätepark, der für den Radiologie-Bereich im Ärztehaus angedacht ist, solle zum Beispiel auch ein 3D-Computertomograf für mammografische Untersuchungen gehören. Das sei eine neue Technologie, die 30 Prozent präziser ist als die herkömmliche Mammografie. Noch verfüge über sie kein Luxemburger Krankenhaus.
Versuche, für mehr Freiheit im Angebot zu sorgen, gab es früher schon. Vor neun Jahren wollte der damalige Direktor und Besitzer der Labors Ketterthill, Jean-Luc Dourson, in Belval ein Ärztehaus eröffnen. Es sollte rund um die Uhr geöffnet sein und sich auf ambulant behandelbare Notfälle konzentrieren. Doursons Plan scheiterte unter anderem an der Radiologie-Beschränkung.
Doch während Krankenhäuser in Luxemburg Not-for-profit-Einrichtungen sind, weil sie quasi komplett öffentlich finanziert werden, war Doursons Projekt ein kommerzielles. Das von Flavio Becca ist es auch, und vermutlich wär es jedes ambualnte. Dourson hatte „anspruchsvolle Patienten“ im Auge: Biete man ihnen das Richtige, dann kämen sie auch, und kämen anschließend immer wieder (d’Land, 7.4.2011). Für Cloche d’or wiederum, so ist das in dem Urteil von vergangener Woche nachzulesen, wird das Ärztehaus als Teil eines „lieu de vie global et intégral, marqué par la proximité des commerces, loisirs et médecins, facilement accessible en transport en commun depuis la ville de Luxembourg ou des ‚parkings P+R‘ adjacents“ gesehen. Wie in einem Prospekt eines Immobilienunternehmers.
Deshalb ist eine weitere politische Frage die, inwiefern die Krankenversicherung für das aufkommen wird, was aus Spitälern ausgelagert wird. Die Konzentration des Angebots auf die Kliniken war bisher unter anderem deshalb ausdrücklich politisch gewollt, weil das Effizienzgewinne versprach und es der CNS leichter fällt, die Kostenentwicklung von ein paar Spitalgruppen in Jahresbudget-Verhandlungen zu überblicken, als die von einer Vielzahl von Cabinets oder Ärztehäusern.
Was die CNS zum Beispiel für ambulante IRM bezahlen könnte, bliebe noch zu entscheiden. Die Investitionen für den Arzt oder die Ärzte wären beträchtlich: Ein IRM mindestens eine Viertelmillion Euro, die Preise für CT-Scanner beginnen im Millionenbereich. Personalkosten müssten Tarife, die es noch nicht gibt, vermutlich ebenfalls anteilig enthalten. Radiologe Del Fabro schätzte gegenüber dem Land vor zwei Jahren die „Frais connexes“ für IRM auf grob 260 Euro pro Analyse. Sie kämen hinzu zum Preis des Behandlungsakts selbst, momentan rund 147 Euro, den ein Arzt im Spital abrechnet. Davon erstattet die CNS dem Patienten 88 Prozent zurück.
Was auf die CNS zukommen könnte, wenn das Klinik-Monopol fällt, wurde intern noch nicht in Einzelheiten diskutiert. Womöglich aber könnte der Ärzteverband bei der Nomenklaturkommission beantragen, dass solche Tarife schon bald definiert werden. Allerdings ist ein Tarif, den der Arzt in Rechnung stellt, nicht dasselbe wie die Kostenübernahme durch die Kasse. Das wirft eine weitere politische Frage auf: Die nach dem Geltungsumfang der Sozialversicherung, falls das ambulante Angebot ausgeweitet wird.
Um bei IRM zu bleiben: In Deutschland, wo Zwei-Klassen-Medizin herrscht, kann ein Kassenarzt für eine IRM-Analyse 131,28 Euro abrechnen. Darin sind alle Kosten enthalten. Privatpatienten können laut der aktuellen Gebührenordnung des Verbands der privaten Krankenversicherungen für die aufwändigste IRM-Analyse zwischen 256,46 und 461,28 Euro in Rechnung gestellt werden, wobei ebenfalls alle Kosten inbegriffen sind. Könnten mehr ambulante Angebote eine Vorstufe sein, dass CNS-Tarife definiert werden und daneben solche, für die Zusatzversicherungen aufkämen? Führt „anspruchsvolle Patienten“ bedienen zu wollen, eines Tages dahin?
Solche Fragen gehören auf den Gesundheitstisch, der noch vor Jahresende beginnen soll. Wie auch die, unter welchen Bedingungen Personal in Ärztehäusern angestellt würde: Ein OGBL, dessen neue Präsidentin für das Syndikat Gesundheits- und Sozialwesen verantwortlich war und vergangenes Jahr in einem Pflegeheimstreik bekam, was sie wollte, wird nicht hinnehmen, dass der ambulante Bereich dem Krankenhaus-Kollektivvertrag ein Dumping liefert. Im Gegenzug fragt sich, ob ambulante Einrichtungen Pfleger oder Radiologie-Assistenten finden könnten, wenn der Spitalsektor bessere Bedingungen bietet.
Politisch betrifft all dies auch den Sozialminister. Weil es um Strukturen geht, betrifft es den Gesundheitsminister noch mehr. Nachdem Anfang dieser Woche publik wurde, dass Etienne Schneider vielleicht schon zum 3. Februar aus dem Amt scheiden und in den Privatsektor wechseln könnte, stellt sich ganz akut die Frage, ob er den Gesundheitstisch zu Ende bringen wird. Auf diese Frage des Land richtete Schneiders Sprecherin Monique Putz aus: „Der Gesundheitstisch gehört durchaus zu den Prioritäten des Ministers.“ Auf die Gegenfrage, ob das bedeute, er werde den Gesundheitstisch zu Ende bringen, erwidert die Sprecherin, „ich kann nur mitteilen, was der Minister mir gesagt hat“. Eigentlich muss das auch der LSAP Sorgen machen.