Umweltmedizin – damit war in Luxemburg lange vor allem ein Name verbunden: Jean Huss. Ab den Neunzigerjahren erzählte der langjährige Abgeordnete der Grünen an der Spitze der von ihm mitgegründeten Aktionsgruppe für Umwelttoxikologie (Akut) im Parlament und in den Medien von Amalgam in Zahnfüllungen, von Elektrosmog und von „Wohngiften“ und davon, wie stark manche Menschen darunter leiden würden. Die Forderung, eine umweltmedizinische Versorgung einzurichten, stand noch nach der Jahrtausendwende an vorderster Stelle in gesundheitspolitischen Verlautbarungen der Grünen, so dass es manchmal schien, als kannte die Partei nur dieses Thema. Dass LSAP-Gesundheitsminister Etienne Schneider vor zwei Wochen entschieden hat, den nationalen Dienst für Umweltmedizin am Centre hospitalier Emile Mayrisch anzusiedeln, und dass Chem-Generaldirektor Hansjörg Reimer verspricht, bis Ende 2020 stehe dieser Dienst, dürfte Huss zufriedenstellen. Wegen eines Auslandsaufenthalts ist er nicht zu erreichen. Stellvertretend für ihn nennt Akut-Vorstandsmitglied Marielle Hilgert „bahnbrechend“, was sich um den nationalen Dienst tut. „Luxemburg wird damit zum Vorbild.“
Hilgert ist selber „Umwelt-Patientin“, seit 30 Jahren schon, lässt sich noch immer auf Überempfindlichkeit gegenüber Chemikalien ärztlich kontrollieren. Die Probleme, die sie hatte, beschreibt sie als massiv. „Mir wurde nachts schlecht, ich hatte in der rechten Seite kein Gefühl mehr und dachte, ich hätte einen Herzinfarkt.“ Vom Hausarzt weiter zu einem Spezia-listen nach dem anderen führt ihre Odyssee. Auch zu einem Neurologen, „weil ich meine Beine nicht mehr bewegen konnte“. Keiner findet eine Ursache. Dann liest sie Anfang der Neunzigerjahre vom „Holzschutzmittelprozess“ in Deutschland. „Ich fand, die Geschädigten, von denen da die Rede war, hatten ganz ähnliche Symptome wie ich.“ Marielle Hilgert und ihr Ehemann lassen daraufhin ihre Wohnung auf Gifte untersuchen. „Es stellte sich heraus, dass wir Schränke hatten, die mit Pentachlorphenol behandelt waren, eine Couch war mit Lindan belastet, ein Teppich mit Toxafen.“ Marielle Hilgert wendet sich an einen Umweltmediziner in Deutschland, der mit ihrem Hausarzt hier zusammenzuarbeiten beginnt. Neue Analysen folgen, Diagnosen und Behandlungen. Für quasi alles zahlt sie selber.
Das ist ein Punkt, der öffentlich noch kaum thematisiert wurde, wenn von Umweltmedizin die Rede war: Was für Leistungen damit gemeint sind, und wer für was genau davon wie viel bezahlen soll.
In einem Spital eine kleine umweltmedizinische Abteilung einzurichten, ist keine neue Idee. Seit 2009 tauchte sie in jedem Koalitionsprogramm auf. LSAP-Gesundheitsminister Mars Di Bartolomeo ließ sie seinerzeit in den Spitalplan schreiben. 2012 schien eine kleine Umweltklinik am Chem ausgemacht, für die der Escher Galgenberg als Standort im Gespräch war. Getrennt von den anderen Chem-Krankenhäusern sollte die Klinik sein, um garantiert keinen Chemikalien von dort ausgesetzt zu sein und den Patienten ein von Belastungen freies Umfeld zu bieten.
Doch schon vorher wurde ein umweltmedizinisches Angebot geschaffen. Das Gesundheitsamt im Gesundheitsministerium erhielt eine Umweltambulanz. Dort können wegen Wohngiften, Schimmelpilzen oder Elektrosmog Besorgte Messungen anfragen. Das Laboratoire national de santé nimmt umweltmedizinische Analysen vor, Privatlabors bieten ebenfalls welche an. Nicht zuletzt fand 2001 und 2002 auf Betreiben des damaligen DP-Gesundheitsministers Carlo Wagner eine Weiterbildung in Umweltmedizin für interessierte Ärzte statt. 25 nahmen teil und erhielten das Zertifikat, unter ihnen Allgemeinmediziner, aber auch Spezialisten. Sie gründeten anschließend die Association luxembourgeoise de médecine de l’environnement (Almen).
Almen-Präsident ist Roby Thill, Allgemeinmediziner in Beaufort. Er sagt: „Ich mache nichts anderes mehr als Umweltmedizin. Vor 21 Uhr habe ich selten Feierabend und bin bis kommenden März ausgebucht.“ Trotz der offenbar großen Nachfrage aber seien die wenigsten der 25 vor knapp 20 Jahren weitergebildeten Ärzte noch aktiv in dem Bereich. Thill nennt außer ihm selber zwei. „Man muss ja davon leben können.“ Seine Praxis, in der er zwei Krankenpfleger beschäftigt, überlebe trotz des Patientenandrangs „gerade so“. Dabei zahlen die Patienten kräftig aus eigener Tasche zu, wofür sie auch unterschreiben.
Eigentlich ist so viel Privatmedizin in Luxemburg nicht erlaubt. Doch als eigenständiges Fach existiert die Umweltmedizin nicht in der Liste des spécialités médicales reconnues au Grand-Duché, die zuletzt 2011 aktualisiert wurde – mag es auch ein Gesundheitsminister gewesen sein, der die Weiterbildung anregte. Grund dafür ist, dass die Umweltmedizin je nach EU-Land sehr verschieden aufgefasst wird und es keinen Konsens über Ausbildungsanforderungen gibt. Da in Luxemburg erst nach und nach damit begonnen wird, eigene Ärzte auszubilden, wäre es heikel, in die offizielle Liste eine Fachsparte aufzunehmen, die nicht überall gleichermaßen etabliert ist. Und so werden die Umweltmediziner geduldet, doch weil es sie offiziell nicht gibt, stehen in der Ärzte-Gebührenordnung, der „Nomenklatur“, keine Tarife für sie. Roby Thill könnte deshalb nur in Rechnung stellen, was er als Allgemeinmediziner aufschreiben darf: 46,10 Euro pro Konsultation beim aktuellen Indexstand und alle sechs Monate für denselben Patient 68,80 Euro für eine „Consultation majorée“ mit einer „durée sensiblement supérieure à celle de la consultation normale et suffisante pour permettre un examen exhaustif“, wie die Nomenklatur festhält. Eine erschöpfende umweltmedizinische Untersuchung aber dauere wenigstens eine Stunde, sagt Thill, oft zwei, manchmal auch drei. „Deshalb berechne ich Viertelstunden-Tranchen à 35 Euro. Jede angerissene Viertelstunde runde ich ab.“ Manche Behandlungen nimmt der Beauforter Arzt selber vor, für andere überweist er ins Ausland. „Dort ist das alles privat.“ Da koste zum Beispiel eine Blutwäsche zur Entgiftung des Körpers 1 000 bis 1 500 Euro pro Sitzung. „Wie viel davon die Patienten benötigen, ist individuell verschieden und hängt vor allem davon ab, wie schnell und wirksam die weitere Zufuhr der Stoffe, die Probleme verursachen, unterbunden werden kann.“ Manche Patienten brauchen jahrelange Behandlungen.
Dass die Einrichtung eines nationalen Dienstes die Umweltmedizin aus ihrer Grauzone holen müsste, ist den Verantwortlichen durchaus klar, wurde aber noch nicht weiter thematisiert. Als der nationale Dienst 2018 als Vorhaben ins Spitalgesetz kam, geschah das aufgrund einer Bedarfsanalyse. Doch das Gesundheitsamt im Ministerium schrieb damals, der Bedarf sei ihm unbekannt, auch die internationale Literatur liefere keine Hinweise. Also wurden für den Dienst zwei Krankenhausbetten vorgesehen. Vielleicht reicht das ja: Roby Thill, als Gründungsmitglied der Europäischen Akademie für Umweltmedizin auch international unterwegs, geht davon aus, dass 70 bis 80 Prozent der Umwelt-Patienten keine stationäre Einweisung benötigen. „Nur die schwersten Fälle muss man in eine Clean Unit legen.“ Doch „nationaler Dienst“ impliziert, die umweltmedizinische Versorgung als öffentliche Leistung anzubieten, während sie im Ausland privat ist. Das hieße, CNS-Tarife dafür festzulegen, wofür Roby Thill erklärt, mit der Almen „jahrelang ohne Erfolg gekämpft“ zu haben. Umweltmediziner müssten den Zeitaufwand berücksichtigt erhalten, das sei das Wichtigste.
Die Frage stellt sich auch am Chem, denn der nationale Dienst in einem Fachbereich, den es offiziell nicht gibt, muss sich irgendwie finanzieren. Chem-Generaldirektor Reimer, der bisher vor allem erklären musste, dass auch ein Containerbau als Provisorium neben dem Hôpital Princesse Marie-Astrid in Niederkorn den Anforderungen an Sauberkeit und Störungsfreiheit gerecht werde, ehe der nationale Dienst 2025 in den Neubau des Südspidol einziehe, hält die Tarif-Frage bei den Ärzten für durchaus kritisch. Reimer will „Teamarbeit“ mit Ärzten anderer Disziplinen am Chem organisieren, will ein neues Weiterbildungsangebot auflegen. Doch zumindest ein ausgewiesener Umweltmediziner müsse als Koordinator und Fachmann fungieren. Vielleicht könne er über eine „Pauschale“ der CNS bezahlt werden. Auf welcher Grundlage die Behandlungen bezahlt werden, müsse ebenfalls geklärt werden.
Hansjörg Reimer nennt noch ein Problem: Die CNS bezahlt nicht alle umweltmedizinischen Analysen von Privatlabors. Das Laboratoire national de santé nimmt spezifische Analysen vor und will, wie seine Direktion dem Land erklärt, die Umweltmedizin „strategisch“ weiterentwickeln. Zurzeit zumindest aber wird eine ganze Reihe von Untersuchungen nur von Privatlabors angeboten, ohne dass die CNS dafür aufkommt. „Das kostet 100 bis 150 Euro pro Analyse“, sagt Reimer. „Summiert sich das, wird es teuer.“
Dass die Umweltmedizin, die anderswo nur privat zu haben ist, in Luxemburg in den Geltungsbereich der Sozialversicherung fallen soll, stehe für das Sozialministerium außer Frage, erklärt dessen Generalkoordinator Abilio Fernandes. „Der nationale Dienst steht schließlich im Spitalgesetz.“ Über Tarife aber könne man „derzeit noch nicht viel sagen“. Die Frage sei, ob eine Anerkennung des Zeitaufwands für den Umweltmediziner reiche, oder ob auch „spezifische Behandlungsakte“ definiert werden müssten. Letzteres sei nicht ohne legale Basis zu haben – die Anerkennung der nicht existierenden Disziplin also. Doch das sei eher Sache des Gesundheitsministeriums.
Dessen Pressestelle lässt per E-Mail durchblicken, dass die Anerkennung möglichst vermieden werden soll: „Für die Qualität der Behandlung zählt das interdisziplinäre Team, nicht der Solo-Umweltmediziner.“ Minister Etienne Schneider lässt auf die Frage, inwieweit er sich die Umweltmedizin als öffentliche Leistung vorstellt, wenn sie im Ausland privat ist, ausrichten: „Ich will auf jeden Fall bestimmte Auswüchse vermeiden, wie sie im Ausland festgestellt wurden, wo von Ärzten mit wenig Skrupeln Diagnose- und Behandlungspraktiken verkauft werden, die ohne wissenschaftliche Basis sind.“ Privat-Umweltmedizin schließt der LSAP-Vizepremier demnach nicht aus. In der Zwischenzeit soll zur Umweltmedizin eine „nationale Strategie“ ausgearbeitet werden; nächstes Jahr, gerade noch rechtzeitig, ehe die Umweltklinik ihre Türen öffnet. Wichtige „Konzertierungen“ hätten noch nicht stattgefunden, wird vom Gesundheitsministerium eingeräumt. „Wir sind noch in der Anfangsphase.“
Marielle Hilgert von Akut findet, die Umweltmedizin sollte unbedingt öffentlich bezahlt werden. Ihre eigene Behandlung war so teuer, „dass ich mir von dem Geld ein kleines Studio hätte kaufen können, wenn ich alles zusammenrechne“. Komme die CNS für die Behandlungen rechtzeitig auf, vermeide sie spätere Ausgaben, die höher wären, ist Hilgert überzeugt. CNS-Präsident Christian Oberlé ließ eine Anfrage, ob dergleichen schon erörtert wurde, unbeantwortet.