Eine Journalistin wird in einem Theaterfoyer von einem Künstler angegriffen und mit den Exkrementen eines Hundes beschmiert. Solche Übergriffe passieren nicht im luftleeren Raum, sondern gebären sich aus einer bereits vorhandenen Atmosphäre heraus. In den zahlreichen Debatten, die nach diesem Vorfall geführt wurden, taucht nicht auf, welche Umstände solches Handeln ermöglichen und inwieweit Frauenfeindlichkeit dabei mitschwingt.
Die Journalistin, Wiebke Hüster, ist Tanzkritikerin der FAZ und der Künstler, Marco Goecke, Chefchoreograf und Ballettdirektor am Staatstheater Hannover, wo sich dieser Vorfall am 11. Februar diesen Jahres in der Pause am Premierenabend zu seinem neuen Stück Glaube-Liebe-Hoffnung ereignete. Die Zusammenarbeit mit ihm wurde aufgelöst und er erhielt Hausverbot. Eine Entschuldigung, die nicht durch eine mitgelieferte Medienkritik seinerseits eingeschränkt wurde, gab es bis heute nicht.
Sofort drängt sich in diesem Kontext Fragem auf, die nicht zentral, aber für die Aufarbeitung unerlässlich sind: Inwiefern spielt es eine Rolle, dass die Journalistin eine Frau ist? Hätte ein männlicher Kritiker auch Hundekot ins Gesicht bekommen? Dieser Aspekt wird lediglich von Eva Marburg in einem Beitrag für SWR2 Kultur Aktuell aufgeworfen. In anderen Meldungen, in denen alle erdenklichen Wortspiele über Kot vorkommen und selbst zur Ehrenrettung des Dackels aufgerufen wird, findet diese Thematik keinen Platz. In einer Welt, in der es Frauenfeindlichkeit gibt und der öffentliche Raum kein sicherer Ort ist, wenn man als Frau gelesen wird, muss man fragen, welche misogyne Machtmechanismen wirken, wenn eine Frau Opfer männlicher Gewalt wird. Eine Gewalt, die Wiebke Hüster in einem Interview für den NDR folgendermaßen beschreibt: Sie habe „ihre physische Unversehrtheit verletzt“ und fühlte sich an, als wäre sie „ein Tier, über das ein Löwe hergefallen ist“. „Ich war in Schockstarre, ich war in Panik.“
Auch auf der Pressekonferenz, die drei Tage nach dem Vorfall stattfindet und von der Intendantin Laura Berman geleitet wird, findet diese Fragestellung keinen Raum. Am Anfang steht eine kurze Entschuldigung in zwei Sätzen für das Fehlverhalten des leitenden Ballettdirektors. Dann beginnt Berman mit einer längeren Erzählung über einen sensiblen Künstler, der einen „unüberlegten Übergriff“ getätigt habe und damit auch dem Ruf des Hauses geschadet hat. Auch drückt Berman ihre Besorgtheit über den Menschen Marco Goecke aus. All das ist gut und richtig – und auch ihre Aufgabe als verantwortungsvolle Intendantin. Allerdings hat die Erzählung vom exzentrischen Künstler so einen langen Bart, dass man daraus Zöpfe flechten kann. Zu dieser Erzählung gehört auch die Rechtfertigung von übergriffigem Verhalten. Laura Berman verweist auf ein Portrait vom WDR, in dem auch Nadja Kadel, Goeckes Managerin, zu Wort kommt und erzählt: „Marco ist halt einfach auch so besonders, dass man ihm halt auch Sachen durchgehen lässt, die man mit niemandem anderen mitmachen würde.“ Ist es nicht die Aufgabe jedes Verantwortlichen, solche Strukturen zu erkennen, sie zu hinterfragen und die Mitarbeiter/innen davor zu schützen?
Obwohl Laura Berman betont, dass sie die letzten Tage unter Schock stand und sich gedanklich noch nicht richtig auf den Vorfall einlassen konnte, spricht sie von der Kritik als wichtiges Instrument, um den Künstler/innen ihre Arbeit zu spiegeln. Sie diene dazu, die Kunst schöner und besser zu machen. Sozusagen als Feedback für Künstler/innen, wie sie es in ihrer 30-jährigen Arbeit als Dramaturgin getan habe. Dabei bemängelt sie, dass es in der heutigen Gesellschaft immer weniger Interesse an differenzierter Kritik gäbe, da polarisierende Äußerungen auf Social Media mehr Klicks generieren würden. Dies würde zwar keine Übergriffe rechtfertigen, ihr wäre es jedoch wichtig dieses Thema jetzt, in diesem Zusammenhang, anzusprechen. Damit stellt sie beides, professionellen Journalismus und verrohte Social Media-Diskussionen, auf dieselbe Stufe und trägt zu jener Atmosphäre bei, die Kulturschaffende und Kritiker/innen gegeneinander ausspielt. Und sie klammert aus, dass es bei der Kritik um eine Auseinandersetzung mit der Kunst und die Kommunikation darüber mit dem Publikum geht. Dabei müsste es gerade Bermans Anliegen sein, Journalist/innen bei der Ausübung ihrer Arbeit in ihrem Haus zu schützen.
Woran glauben wir? Was gibt uns Hoffnung? Welche Rolle spielt Liebe in unserem Leben? So leitet das Programmheft des Staatstheaters den dreigeteilten Abend Glaube-Liebe-Hoffnung ein. Ein Stück, das es verdient hat, rezensiert zu werden. Marco Goecke hat durch sein Verhalten nicht nur dem Stück geschadet, sondern auch seinen Gastchoreografen, Guillaume Hulot und Medhi Walerski, die für Liebe und Hoffnung zuständig waren, während er für den Glauben sein Tanzstück Hello Earth erneut aufführte. Im Programmheft steht, dass das Publikum dazu eingeladen wird, darüber nachzudenken, was wir mit der Zeit anfangen wollen, die uns gegeben ist.
Der Glaube daran, dass das Staatstheater ein Ort sein soll, wo Auseinandersetzung stattfindet, ein angstfreier Raum, in dem Menschen aufeinandertreffen, um sich mit Kunst und Gesellschaft auseinanderzusetzen, wurde am 11. Februar 2023 von Marco Goecke in Frage gestellt.
Wir brauchen als Gesellschaft jedoch Räume, in denen menschliche und gesellschaftliche Abgründe sich in der Kunst widerspiegeln. Dazu gehört ein Publikum, das darüber reflektiert, redet und schreibt, ein Publikum, das eigene Fragestellungen aufwirft, die über die des Programmheftes hinausführen. Der Beruf der Kritikerin ist der einer professionellen Zuschauerin. Dieser Beruf ist kein dankbarer. Besonders in Zeiten von Einsparungen und Kürzungen gilt es diesen Beruf, der unabhängig und frei von den Institutionen agiert, zu schützen und die Umstände, die es erlauben, dass so ein Übergriff passiert, gewissenhaft aufzuarbeiten.